Die populaersten Irrtuemer ueber das lernen
Mittelschicht dünnt aus, sie ist nervös,
ihr schwant, dass sie ums Überleben kämpft. Die einzige Chance für ihre Kinder sieht sie in einer nie da gewesenen Bildungsoffensive. Erste
Fremdsprachenangebote gibt es bereits für Babys. Schüler werden krank zum Unterricht geschickt, damit sie ja nichts verpassen. Geht es doch einmal nicht
anders und ein Kind liegt mit Fieber im Bett, telefoniert die Mutter noch am selben Tag in der Nachbarschaft herum. Wer bringt die Hausaufgaben vorbei?
Wer kann die Hefteinträge vom Vormittag kopieren? In der vierten Klasse tobt der Bär. Eltern treffen sich zum „Übertritts-Stammtisch“. Während die Kinder
blass und ohne Freude lernen, planen die Großen: Welche Möglichkeiten haben wir, wenn die Noten nicht reichen? Notfalls, so sagte mir mal ein Vater,
schmeiße er alles hin und ziehe in ein anderes Land. Er lasse sich die Zukunft seines Sohnes jedenfalls nicht von der Expertise einer Grundschullehrerin
vermasseln.
Völlig aufgelöst rief mich kürzlich eine Bekannte an. Sie hatte ihren Freundinnen offenbart, dass ihre Tochter auf
die Realschule kommen solle. Die Noten hätten zwar auch für das Gymnasium gelangt, aber die Mutter war sicher, dass ihre Tochter auf der Realschule besser
aufgehoben sein würde. Dem Kind fällt das Lernen nicht wirklich leicht, und es war im letzten stressigen Jahr der Grundschule ganz resigniert und mutlos
geworden. Die Freundinnen jedoch hatten meine Bekannte nicht für ihre Umsicht gelobt, sondern sie mit einem Sturm der Entrüstung bedacht. Realschule?
„Unverantwortlich“, da war sich die Riege der Freundinnen einig gewesen. Das Schulsystem mag unbarmherzig sein; Eltern, Freunde, Verwandte, Nachbarn und
Bekannte sind es häufig auch.
Immer früher fängt an, was Zyniker als „Rattenrennen“ bezeichnen. Von Promis aus New York hört man seit Langem, dass angeblich
bereits die Wahl des richtigen Kindergartens über die spätere Karriere entscheide. Auch hierzulande vermehren sich die Stadtneurotiker. So begehrt wie
einst nur Schuhe von In-Designer Manolo Blahnik sind plötzlich Plätze in einem der neu gegründeten Luxuskindergärten: In anderen Kitas mag gesungen,
gespielt und gebastelt werden. Im Luxuskindergarten gibt’s für monatlich 1000,– € Vorträge über den Darm, von den Kindern selbst inszenierte
Theaterstücke sowie naturwissenschaftliche Experimente satt. Wenn überhaupt, wird bilingual gespielt.
Die Ambitionen anderer Leute sollten einen kalt lassen. Sie tun es leider nicht. Fremder Eifer macht schlechte Laune, die nicht
zuletzt die Kinder ausbaden müssen. Kommt man von einer unerfreulichen Begegnung mit Eltern zurück, die wortreich vom angeblich erfolgreichen Streben
ihrer Kinder schwärmten, wird die eigene Brut mit Argwohn betrachtet. Sie gammelt Comics schmökernd auf dem Sofa herum, statt sich auf dieExzellenz-Offensive vorzubereiten? Na wartet, es wird höchste Zeit, dass man euch auch mal Dampf macht!
In den Vereinigten Staaten lässt man selbst Ungeborene nicht in Ruhe. Kein Witz. Um schon dem Fötus das Zählen beizubringen, werden in
der „Prenatal University“ in Kalifornien Schwangere dazu angehalten, eine Halogenleuchte auf ihre Babybäuche zu richten. Sie knipsen sie an und aus –
zwei-, drei-, viermal. Two lights (three, four), ertönt es durch Schalltüten, damit der Adressat der Mühen auch ja aufwacht. In den USA ist derlei
Fötentraining durchaus populär – obwohl Psychologen eindringlich davor warnen.
Derartige Eltern-Paranoia gibt es zum Glück hierzulande nicht. Folgende Zahlen sollten dennoch zu denken geben: Jedes vierte Kind in
Deutschland hat mit acht Jahren bereits irgendeine Therapie hinter sich. Eltern bringen ihre Kinder zum Ergotherapeuten, zur Logopädin, zum
Psychologen. 15 Prozent aller Psychopharmaka, vor allem Antidepressiva, werden Kindern verschrieben. Schulkinder klagen über Nervosität, Schlafstörungen
oder Kopfschmerzen. Das sind Erkrankungen, die auch gestresste Manager plagen. Ja, es ist wünschenswert, wenn Kinder möglichst gut in der Schule
sind. Ohne Fleiß und Disziplin wird das auch nicht funktionieren. Vor überflüssigem Stress und Panik aber können wir sie bewahren.
Im Jahr 2005 stieß ich zum Team von Focus-Schule. Die Themen rund ums Lernen interessieren mich auch privat, schließlich habe ich zwei
Kinder. Im Laufe der Jahre wurde ich zunehmend kritischer und respektloser gegenüber den
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