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Die Poison Diaries

Die Poison Diaries

Titel: Die Poison Diaries
Autoren: Maryrose Wood
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auf meinem Gesicht zu verharren. Aber er gibt mir kein Zeichen des Wiedererkennens; sein Ausdruck verändert sich nicht. Galant reicht er die Rose einer jungen Frau in der Nähe der Bühne, die vor Entzücken aufjuchzt. Dann verbeugt er sich und geht ab.
    Ich weiß, dass nur er es gewesen sein kann; wie hätte ich ihn auch nicht erkennen sollen? In dem Augenblick, in dem er die Bühne betrat, hat mich jede Bewegung seines eleganten Körpers in Bann gezogen, seine zerzausten dunklen Locken, die blitzenden smaragdgrünen Augen.
    Nur die Haltung ist neu. Früher war er nicht an menschliche Gesellschaft gewöhnt und hatte für jedermann nur Argwohn übrig. Jetzt hat er offensichtlich seinen Platz in der Welt gefunden. Seine Grazie und seine ruhige Selbstsicherheit würden jeder Frau den Atem stocken lassen.
    Er kann mich nicht erkannt haben – ich bete, dass es so ist. Nicht nur, dass ich kostümiert und maskiert bin – alles an mir ist anders, innerlich wie äußerlich. Dass Weed mich so sieht, mit knallrot bemalten Lippen und einem hautengen, durchsichtigen Kleid, eingerieben mit einem Gift, das den König dazu bringt, mich unentwegt zu betatschen wie ein betrunkener Matrose – das ist beinah mehr als ich ertragen kann. Ich kann nur hoffen, dass er nicht bemerkt hat, wer hinter der Maskerade steckt.
    Kann ich fliehen? Doch in diesem Moment ertönt die Glocke zum Diner. Die Gäste nehmen ihre Plätze an der langen Bankett-Tafel ein und stehen geduldig neben ihren Stühlen, bis der König geruht zu erscheinen
    Der König – mein König, den ich umbringen muss. Wie kann ich eine solche Schandtat vor den Augen von Weed begehen? Sein Anblick erweckt Gefühle in mir, die ich schon lange tot und begraben glaubte. Liebe. Hoffnung. Das Wissen um Gut und Böse. All diese Dinge kämpfen sich ihren Weg durch den Drogenmantel, den ich seit Monaten wie eine zweite Haut um mich gelegt habe, bis zu meinem Bewusstsein.
    Weed – ich könnte seinen Namen laut hinaufschreien, nicht nur zu den gemalten Sternen auf der Decke des Saals, sondern zu den wirklichen Sternen im Himmel darüber. Ich würde seinen Namen in einen Freudengesang verwandeln – aber wer würde ihn singen? Jessamine oder Belladonna? Eine Mörderin, eine Assassine? Eine verdammte Seele, die im ewigen Höllenfeuer schmoren wird? Oder ein gefallenes, geschändetes Mädchen, für das es vielleicht noch einen Schimmer Hoffnung gibt?
    An allen Ausgängen stehen die Mitglieder der Skorpione Wache. Alle anderen Männer hier im Saal könnte ich umgarnen, um zu fliehen, aber diese nicht. Sie kennen meine berauschenden Tricks, und sie lassen mich nicht aus den Augen. Wenn ich versuche zu fliehen, werden sie mich in Ketten legen.
    Es gibt keinen Ausweg.
    Die Glocke erklingt ein zweites Mal. Ich schaue mich noch einmal um. Weed kann ich nicht entdecken. Wenn er mich nicht erkannt und die Gesellschaft verlassen hat, dann ist dies die größte – und letzte – Gnade, die mir zuteil wurde. Jetzt muss ich mich meinem Schicksal stellen.
    Hoffentlich geht es schnell
, flehe ich – doch welcher Gott mag wohl die Gebete einer Mörderin erhören?
Für den König und für mich.
    Die Sonnenblumenschleppe hinter sich herziehend, schreitet der König zu dem vergoldeten Stuhl am Kopfende der Tafel. Er setzt sich, und die anderen Gäste folgen seinem Beispiel.
    Ein Priester spricht den Segen, und dann fangen die Höflinge an, den König mit Worten zu umschmeicheln. Schließlich erhebt sich der Mann, den ich als Eisenhut kenne; er scheint ein hochrangiges Mitglied des Hofes zu sein. Er klopft gegen sein Glas und wartet, bis sich Stille über die Gesellschaft gesenkt hat.
    »Und jetzt«, spricht er mit falscher Ehrfurcht, »werden wir, wie es Brauch ist, das Fest zu Ehren des Heiligen Martin mit einer Flasche des diesjährigen neuen Weins eröffnen.«
    Die Flasche, die herbeigebracht wird, wird mit Jubelrufen begrüßt. Auf dem Etikett steht nichts geschrieben; stattdessen ist das Bild eines Blumenstraußes zu sehen – lange, ledrige Blätter mit trichterförmigen weißen Blüten, genau die gleichen wie in meinem Haar.
    »Einige behaupten, der neue Wein sei nie so gut wie der alte«, fährt der Verräter fort. »Aber das ist nicht immer so. Manchmal ist die Abkehr vom Alten etwas Gutes. Veränderung liegt in der Natur der Dinge, wie der Wandel der Jahreszeiten. Man muss sie nicht fürchten.«
    »Du sprichst wie ein Revolutionär, Charles!«, ruft jemand. Einige Anwesende lachen
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