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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin
Autoren: Aufbau
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größten und sehnlichsten Wunsch auf Erden verwirklicht, aber es war immerhin etwas.
     Denn der Ruhm und das Schicksal des päpstlichen Bibliothekars Anastasius und seines großen Werkes würden die Jahrhunderte
     überdauern, während Päpstin Johanna im Dunkel der Geschichte verloren sein würde, der ewigen Vergessenheit preisgegeben.
    Der Krampf in seiner Hand war verschwunden. Anastasius nahm die Feder auf und begann wieder zu schreiben.
     
    Im Scriptorium des Bischofspalasts zu Paris arbeitete Erzbischof Arnaldo an der letzten Seite seiner Abschrift des
Liber Pontificalis
. Die Sonne schien durch das schmale Fenster; in dem Balken aus gelbem Licht, der ins Scriptorium fiel, tanzten Myriaden von
     Staubteilchen. Arnaldo setzte den abschließenden, schwungvollen Schnörkel auf die letzte Seite, las sie noch einmal durch
     und legte dann müde die Schreibfeder auf das Pult.
    |554| Es war eine lange und beschwerliche Arbeit gewesen, das gesamte Manuskript des »Buches der Päpste« zu kopieren. Die Schreiber
     im Bischofspalast hatten höchst erstaunt reagiert, als der Erzbischof die Arbeit selbst übernommen hatte, statt sie einem
     von ihnen zu übertragen, doch Arnaldo hatte seine Gründe für diese Entscheidung. Er hatte das berühmte Manuskript nicht nur
     kopiert, sondern auch korrigiert: Zwischen den Abschnitten, in denen das Leben der Päpste Leo und Benedikt beschrieben wurde,
     gab es nun einen neuen Eintrag über Päpstin Johanna – einen Abschnitt, in dem Johannas Leben und ihre Amtszeit wieder an die
     ihnen zustehenden Plätze in der Geschichte gerückt wurden.
    Doch Arnaldo hatte diese Aufgabe nicht nur übernommen, um die historische Wahrheit zurechtzurücken, sondern auch aus einem
     Gefühl der persönlichen Schuld. Wie Johanna war auch der Erzbischof nicht das, was er zu sein schien. Denn Arnaldo, geborene
     Arnalda, war in Wirklichkeit die Tochter des fränkischen Gutsverwalters Arn und seiner Frau Bona, bei denen Johanna nach ihrer
     Flucht aus dem Kloster Fulda eine Zeitlang gelebt hatte. Damals war Arnalda ein kleines Mädchen gewesen, doch sie hatte Johanna
     niemals vergessen – die freundlichen, klugen Augen, die sie so liebevoll betrachtet hatten; die Spannung und den Reiz ihrer
     täglichen gemeinsamen Unterrichtsstunden; ihrer beider Freude, als die kleine Arnalda die ersten Worte lesen und schreiben
     konnte. Von Johannas Beispiel ermuntert, hatte auch Arnalda als Heranwachsende beschlossen, sich als Mann auszugeben, um ihre
     ehrgeizigen Pläne verwirklichen zu können.
    Wie viele andere von uns mag es wohl geben?
fragte Arnalda sich nicht zum erstenmal. Wie viele andere Frauen hatten den kühnen Sprung getan und ihre weibliche Identität
     abgelegt? Wie viele Frauen hatten ein Leben aufgegeben, das mit Kindern und einer Familie hätte erfüllt und ausgefüllt sein
     können, um statt dessen Ziele anzustreben, die sie als Frau und auf andere Weise niemals hätten erreichen können? Wer konnte
     das sagen? Es mochte gut sein, daß Arnalda in einem Kloster oder einem Dom, ohne es zu wissen, einer Geschlechtsgenossin begegnet
     war, die sich in geheimer und bislang unaufgedeckter Schwesternschaft als Mann ausgab und einen ebenso beschwerlichen Weg
     gehen mußte wie Johanna und Arnalda.
    |555| Arnalda lächelte bei diesem Gedanken. Sie schob die Hand unter den Kragen ihres erzbischöflichen Umhangs und ergriff das hölzerne
     Medaillon mit dem verwitterten Bildnis der heiligen Katharina. Arnalda hatte es seit jenem Tag vor mehr als vierzig Jahren,
     da Johanna es ihr um den Hals gelegt hatte, nicht ein einziges Mal abgelegt.
    Arnalda blickte auf die Abschrift des
Liber Pontificalis
. Morgen würde sie das Manuskript in Leder binden, den Einband mit goldenen Lettern prägen und das Werk in den Archiven des
     Domes unterbringen lassen. Dann gab es wenigstens einen Ort, an dem schriftliche Aufzeichnungen über Päpstin Johanna aufbewahrt
     wurden, die – wenngleich eine Frau – ein guter und gottesfürchtiger Statthalter Christi auf Erden gewesen war.
    Eines Tages würde jemand diese Unterlagen finden und Johannas Geschichte erzählen.
    Die Schuld ist beglichen,
dachte Arnalda.
Ruhe in Frieden, Päpstin Johanna.
     
    ENDE

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    |556| Anmerkungen der Verfasserin
Gab es Päpstin Johanna?
    Päpstin Johanna zählt zu den faszinierendsten und außergewöhnlichsten Gestalten der abendländischen Geschichte – und zu denen,
     über die am wenigsten bekannt ist. Die meisten Leute haben
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