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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Zeiner
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Jens-Christian Hepp dorthin gesetzt worden war. »Na, was sagst du??« oder »Na, was lagst du??«, was weniger Sinn ergab, und »Ruf mich bitte endlich zurück!«, zweimal unterstrichen. Holler erhob sich zögernd von seinem Klavierhocker, bückte sich und griff nach dem Papier.
    Sie spielten in Italien. Es war ihm noch nie passiert, dass er einen Auftritt vergessen hatte. Es war erstaunlich und nicht lustig, und doch musste er lachen. Es war ein glucksendes Auflachen, das seine Schultern schüttelte, und er erschrak über das laute Geräusch, das aus ihm selbst kam. Aber er begann, es wirklich lustig zu finden: Er stellte sich ihre Gesichter vor, wenn er nicht käme, die Gesichter der Veranstalter, die Gesichter der Kollegen. Didis Wut vor allem, die er hinter einer gespielten Trauer würde verbergen müssen, was ihm schlecht gelänge. Warum ausgerechnet jetzt?, würde er sich fragen, warum jetzt, wo nach Italien gefahren wird? Hätte er es nicht um drei Wochen verschieben können? Hätte er nicht wenigstens Bescheid geben können?
    Aber das konnte er ja wirklich nicht.
    Es wurde ihm bewusst, dass er absolut frei war. Frei vielleicht wie nie, aber gleichzeitig fiel ihm auf, dass diese Freiheit, die in Form des Wasserglases vor ihm dastand, sich selbst schon wieder zu einer Art von Zwang einzudicken begann. Er hätte nicht sagen können, wann er die Entscheidung getroffen hatte (er,der nie eine getroffen hatte), ein Wasserglas mit aufgelösten Medikamenten vor sich auf seinen Flügel zu stellen, und letztlich handelte es sich wohl auch hier nicht um eine solche, sondern eher um die Anwesenheit gewisser Gedanken, die sich mehr und mehr zu einer Art Nebel verdichtet hatten. Nebel aber, bedachte er jetzt, konnte sich auch wieder auflösen.
    Er zündete sich eine Zigarette an. All das hatte nichts mit ihm zu tun. Das Glas nicht, das Zimmer nicht, der Zeitungsartikel nicht.
    Stumm blickte er auf das Foto hinab, und erstaunt, wie sich ein für Fasching geschminktes Kind im Spiegel das erste Mal betrachten mag, sah er sich selbst im schwarzen Hemd am Flügel sitzen, sah Didi mit blitzendem Saxofon unter dem Arm, Franz, den Hals des Kontrabasses mit ausgestreckter Hand haltend, und hinten, etwas verschwommen, Ulrich am Schlagzeug. Die Aufnahme war offensichtlich bei einem Konzert entstanden. Sie lachten. Ihre Blicke kreuzten sich, spannten ein Netz durch den Raum, im Moment vor dem großen Schlussapplaus. Irgendjemand hatte einen Witz gemacht (vielleicht Didi, vielleicht sogar er selbst), und dann schickten sie sich an, aufzustehen, sich bei den Händen zu halten, den Applaus entgegenzunehmen, wie es hieß. Er selbst hatte den Oberkörper vorgebeugt, den Kopf schräg angehoben. So sah er zu Diedrich hinüber, der in der Mitte stand, lachend. Ein Bild aus glücklichen Tagen, was waren wir glücklich, was war ich glücklich , sollte man denken. Aber der grinsende Tintenfleck auf dem Faxpapier, unterschrieben mit »Tom Holler, Pianoforte«, hatte definitiv nichts mit ihm zu tun.
    Wie grauenhaft Fotografien sind, dachte er. Sieht man gut aus auf ihnen, trauert man den alten Zeiten nach, sieht manschlecht aus, ärgert man sich auch. Dann, ohne Übergang, dachte er: Die Fenster sind dreckig, wenigstens scheint keine Sonne. Und: Das Bad ist ein Müllhaufen. Ich sollte noch die Heizung ausstellen. Gleichzeitig oder um einen Sekundensplitter versetzt, dachte er, wie wohl das Wetter wäre in Italien, und ausgerechnet Italien, und seine Gedanken vervielfältigten sich, kreisten, bildeten unzählige kleine Wirbel in seinem Kopf, bis bald nur noch ein einziger weiß stäubender, riesiger Strudel übrig blieb, der alle übrigen Gedanken aufzusaugen schien und ein gleichmäßiges tosendes Geräusch zwischen seinen (etwas abstehenden) Ohren erzeugte. So saß er einige Minuten. An alles gleichzeitig oder an nichts denkend.
    Als das Rauschen zwischen seinen Ohren leiser wurde, hörte er das dünne Pfeifen eines Vogels. Er sah zum Fenster. Davor stand das Glas. Die weiße Farbe hatte begonnen, sich am Boden abzusetzen. Er dachte an Latte macchiato. Schiefe Cafétischchen in der Knaackstraße, in der Sonne spiegelnd. Und unter dem Glas die schimmernde Oberfläche des Flügels. Der schwarze Lack war dünn an einigen Stellen, durchschienen vom Braun des Holzes, und mit kleinen Kratzern übersät. Dieser Flügel hat schon viele Personen überlebt, dachte er, und wird auch mich überleben, so oder so. Vorsichtig klappte er den Deckel auf, der
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