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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Zeiner
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zweimal daran vorüber.
    An diesem frühen Morgen hörte man aus dem Gebäude schon Klavierakkorde, und Betty zögerte einen Moment zu lange. Es war die Klavierexposition eines Schumannliedes, und wie ein Sonnenlichtstrahl, ein umgekehrter, drang durchs geöffnete Fenster heraus die Gesangslinie. Ein junger Tenor sang die »Mondnacht«, hell. Er hatte Probleme mit der deutschen Aussprache, mit den Umlauten, auch mit dem »h«, das er stärker aspirierte als notwendig – »es war als chätt der Chimmel /die Erde still gekusst«. Betty hielt ihr Gesicht schräg ins Licht dieser Stimme, schloss die Augen.
    Sie kam spät in die Klinik. Demonstrativ verstummte im Besprechungszimmer der leitende Chefarzt De Santis, bis sie sich gesetzt und ihre Unterlagen zurechtgelegt hatte. Carlo Vitelli wurde während der gesamten Besprechung von Betty mit der Schere ihres Desinteresses scharfkantig aus dem Raum getrennt, obwohl sie auch heute, wie in den letzten Wochen meistens, größeren Wert auf die Auswahl ihrer Kleidungsstücke gelegt hatte, um zumindest äußerlich annähernd seinen romantischen Vorstellungen zu entsprechen, die Kontur seiner Vorstellung auszufüllenmit etwas Wimperntusche und engen Jeans, denn es war einige Zeit her, dass ihr jemand eine derartige Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
    Als sie über den langen Flur in Richtung OP lief und keineswegs auf den wartete, der, wie sie annahm, hinter ihr herkam, war sie sich ihres Ganges bewusst, des geschmeidigen, etwas gebogenen Oberkörpers, Birke im Wind, und der Geste ihrer Hand, die das kupferbraune Haar, das, wie man sagte, glänzte, hinter die Schulter gleiten ließ, wo es eine einzige Fläche bildete und hin und her schaukelte.
    Der erste Patient an diesem Morgen war ein 84-jähriger Anwalt aus der Provinz Benevent. Mehrfach operiertes Kolonkarzinom. Jetzt hatten die Angehörigen zugestimmt, dass man ihn ein weiteres Mal von »innen inspiziere«, wie sich De Santis scherzend auszudrücken pflegte. Wenn der Arzt scherzt, so mochten sich die Angehörigen gesagt haben, dann kann es so gravierend nicht sein, dann ist von Tod überhaupt noch nicht die Rede. Schließlich glaubt kein Lebender an den Tod. Jeder Lebende, dachte Betty, die Vitalparameter auf dem Monitor fixierend, jeder ist davon überzeugt bis zuletzt, dass der Tod an der eigenen Familie vorübergeht.
    Sie stellte sich den Anwalt als Kind vor. Wie das Anwaltskind über eine kleine Weltkugel hüpft, durch hüfthohes Gras, und keine Zeit und kein Alter, nur ausgedehnte Gegenwart, Blumen und so weiter. Bienen. Und keine Ahnung, wo das Leben unvermeidlich eines Tages hinläuft: an die gekachelte Wand irgendeines Poliklinikums.
    Aus dem Radio dudelte die Pastorale von Beethoven. »Die Eroica«, sagte De Santis, Betty lächelte still.
    Zu Mittag Spaghetti alle Vongole. Betty hatte sich allein an den hintersten Tisch der Kantine gesetzt und sah kauend aus dem Fenster auf den Parkplatz des Poliklinikums, wo Asphaltmulden mit Licht ausgegossen waren. Als sie schon beim zweiten Gang war, sah sie De Santis mit Gefolgschaft, darunter Carlo Vitelli, vorüberschweben wie ein Tross von Schwänen mit gespreizten Flügeln der Kittelschöße. Wenig später öffnete sich die große Glastür, und die weiße Gefolgschaft nahm an einem Tisch im vorderen Bereich Platz. Betty beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Carlo zögerte, das Tablett vor seine Brust geklemmt, und den Blick durch den nur spärlich gefüllten hohen Raum schickte, sie dann offenbar entdeckte, sich in einem Ruck zur Theke drehte, um sein Menü abzuholen, und anschließend mit einem flüchtigen Gruß zum Oberärztetisch auf sie zusteuerte. Betty griff sich eine der herumliegenden Zeitungen.
    »Darf ich mich setzen?«
    »Hm?«
    »Darf ich?«
    »Klar«, sagte sie und schob die Zeitung zur Seite, damit er sein Tablett abstellen konnte. »Setz dich.« Sie blinzelte und senkte den Blick in die Zeitung hinein, zwirbelte mit den Fingerspitzen eine ihrer Haarsträhnen vor der Schulter, den Oberkörper andeutungsweise höflich zu ihm hingedreht, während die Augen noch an diesem Artikel über eine Korruptionsaffäre hingen, der zu Ende gelesen werden wollte.
    Die Kröte sei gut gelaunt heute, sagte Carlo Vitelli nach einem Räuspern. Er war der Einzige außer ihr, der De Santis wegen seiner winzigen Augen hinter der stark verkleinernden Brille und der sich nach oben hin verjüngenden Kopfform die Kröte nannte, was sie als unangenehme Überschreitung empfand,
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