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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Zeiner
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Geruch des alten Holzes strömte ins Zimmer. »Vielleicht schenke ich ihn dir mal«, hatte Marc am Tag eins ihrer Freundschaft gesagt, und Holler fragte sich wie so oft, ob er nicht doch alles von Anfang an geplant hatte.
    Er hielt die gespreizten Finger über die mattweißen, schwach geäderten Tasten, aber er spielte nicht. Er sah Landstraßenfluchten unter staubigem Licht. Morgenaufgang über Berufsverkehr in sommerlicher Stadt, zwei Fußgänger mit Nacht in den Gesichtern,Zigarettenrauchnebel, der langsam in einem Raum herabsank. Die Rillen der Wohnzimmertapete in der Düsternis eines Abends. Ein durchgesessenes rotes Sofa, von Zeitungen bedeckt, bernsteinfarbene Augen. Als das Klingeln an seinem Ohr lauter wurde, wie ein erstes Geräusch, das in den Raum des Schlafs eindringt, wusste er nicht, seit wann er schon auf seinem Klavierschemel saß. Vor dem Fenster, stellte er fest, war noch Helligkeit, die flach und bleiern über der Stadt lag.
    Es klingelte schrill und fordernd. Holler dachte kurz, sein Tag habe sich verhakt, spränge zurück wie die Nadel auf der Plattenrille, und das italienische Fax käme noch einmal. Tatsächlich aber klingelte das Telefon öfter jetzt, bevor sich der Anrufbeantworter mit Heddas Stimme meldete, »Thomas Holler und Hedda Groning-Holler, bitte das Übliche«. Dann der lange Signalton. Und eine Frauenstimme. Eine Frauenstimme, die aufrecht und schlank und nah und doch körperlos in der Wohnung stand. Die sich räusperte, dann wieder eine Pause ließ mit Atmen, als hätte sie es sich anders überlegt. »Hallo, … hallo Tom. Hier ist Betty. Betty Morgenthal.« Pause. Dann ging die Stimme leichter, stieg zwei Halbtöne nach oben: »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass ihr in Neapel spielt. Ich würde gerne zum Konzert kommen. Vielleicht können wir ja danach was trinken gehen. Du, du kannst mich anrufen, wenn du willst. Meine Nummer ist …« Und eine Handy-Nummer. »Ciao« sagte sie, dann noch einmal, »ciao«, und sie legte den Hörer auf, dort in Italien, wo sie wohnte. Es rumpelte in der Leitung. Kurzes Tuten, vier-, fünfmal, und Stille.
    Holler saß hochaufrecht und bewegte sich nicht, vielleicht aus Angst, durch die geringste Veränderung seiner Körperhaltung das Gewesene zu verscheuchen. Betty Morgenthal. Sie hattetatsächlich ihren Nachnamen hinzugefügt. Als könne er sich ohne diesen Zusatz nicht erinnern. Betty, die du einmal gekannt hast, an die du dich eventuell nicht mehr erinnern kannst, Betty, die folgenden Nachnamen trägt, als wüsste sie nicht, dass dieser Name mit winzigen Buchstaben in die Zwischenzeilen seines Lebenslaufs graviert war. Betty, an deren Augen du eben gedacht hast.
    Wieder entfuhr ihm ein Laut, schüttelte seinen Oberkörper, ein Ton zwischen Auflachen und Schluchzen, als er das Gesicht in die Handflächen grub, seine Stirn auf das Holz des Flügels sinken ließ. Und immer wieder dachte er einen einzigen Gedanken, nämlich dass das Leben aber wirklich komisch sein kann. Das Leben ist echt die allerkomischste Angelegenheit auf der ganzen Welt, dachte er, während das Glas, das er eigentlich schon zu vergessen begonnen hatte, durch eine vielleicht unbedachte, vielleicht gezielte Bewegung seines Ellbogens hinabstürzte und auf den Dielen zersprang.

TOM HOLLER
    In Neapel war das große Licht ausgegangen.
    Betty hatte sich, um allein zu sein, nach Feierabend von der trägen Menschenströmung hinunter zum Lungomare treiben lassen, war erst über die Kaimauer und später, um die Einsamkeit der Menschenansammlung mit der Meereinsamkeit zu tauschen, über die riesigen Bruchsteine gegangen und hatte sich nah ans Wasser gesetzt.
    Als sie auf die dunkle Fläche hinaussah, ohne eine Horizontlinie ausmachen zu können, erschien es ihr absurd, dass sie ausgerechnetheute hatte Schumann hören müssen, wo man sonst mit Vorliebe italienische Arien, Puccini, Verdi, Bellini aus den hohen Fenstern des Konservatoriums hinaussang. Andererseits wusste sie, dass das Schicksal nichts ausrechnet, weil das Schicksal gar nicht rechnen kann und es nur der Mensch ist, der rechnet, weil er die Unordnung nicht erträgt und deshalb im Nachhinein alles zurechtsortiert, in eine scheinbare Logik bringt, indem er die Ereignisse in der großen Schachtel der Erinnerung sammelt und später auf eine Kette fädelt, anordnet wie der Juwelier die Perlen. Die Erinnerungsperlen. Auf dem Modeschmuckcollier des Lebens.
    Sie wusste, dass der Schumann nichts mit Tom zu tun hatte. Sie war es,
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