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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich
Autoren: Wilfried Eggers
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komponierten Lieder in den Sonnenuntergang sang, fühlte man sich gelassen genug für den alten Jean Paul, man nahm ihn aus dem Regal, blies den Staub vom Seitenschnitt, schob den Sessel an die Terrassentür und studierte im letzten Licht des milden Abends den Titan. Man folgte den Schachtelsätzen, Einschüben, Zwischenbemerkungen, skurrilen Einfällen und überraschenden Vergleichen und freute sich am funkelnden Schatz der Sprache, an den gestorbenen Worten, die beim Lesen wieder quicklebendig wurden. Ein gespannter Geist entspannt die Seele. Aber wie oft schafft man das?
    Schlüter ließ das Buch sinken, als Christa in das Wohnzimmer trat, ihr forscher Schritt verhieß Stress.
    »Die Tomaten müssen rein«, sagte sie. »Kannst du mir helfen?« Ihre Hände waren erdig von der Arbeit im Rosenbeet. Seit dem Umzug war sie an den Wochenenden hyperaktiv. Sie vernachlässigte sogar ihre Lieblingslektüre, die englischen Meister des 19. Jahrhunderts. »Ich wasch mir die Hände und mach uns in der Zeit was zu essen. Willst du einen Rotwein?«
    Schlüter nickte und erhob sich. »Dein Wunsch ist mir Befehl!«
    Nur noch der Maulwurf auf dem Rasen übertraf Christa an Aktivität, er arbeitete die Gartenwoche durch, sogar nachts, und jeden Morgen bewunderte Christa die neuen Hügel, mit denen er ihren Rasen verzierte. Sie sei seine Freundin, sagte sie, es sei ihr eine Ehre, mit dem Herrn Grabowski den Garten zu teilen, man könne viel von ihm lernen, in puncto Fleiß, Kraft, Ausdauer und Akkuratesse. Für Maulwurfmörder und – vergrauler hatte sie kein Verständnis.
    Es sei eine kalte Nacht angekündigt, erklärte Christa, die Pflanzen müssten in die Sicherheit des warmen Wohnzimmers gebracht werden, damit sie nicht erfrören. Man schrieb den 8. Mai. Die Eisheiligen standen bevor, gefolgt von der kalten Sophie, das waren die gefährlichsten Tage im Jahreslauf des Gärtners, die zarten Pflanzen, gerade gekeimt, gerieten in Gefahr und die Ernte stand auf dem Spiel, noch bevor der Gartensommer begonnen hatte.
    Minuten später tastete Schlüter sich, in jeder Hand einen tönernen Tomatentopf, durchs Dunkel zur Terrassentür. Seine träge gewordenen Leseaugen taugten noch nicht für die Gartenarbeit, weshalb er gegen die Gießkanne stieß und seine Sandalen flutete, erschrocken einen Ausfallschritt versuchte, gegen den Tritt stolperte und endlich das Gleichgewicht verlor. Um sich zu retten, warf er die Töpfe von sich, stürzte dennoch und schlug mit dem Kopf gegen die Tür. Verrenkt blieb er liegen.
    »Alles in Ordnung?«, hörte er Christa rufen.
    Es knirschte im Kopf. In den Fingern der rechten Hand tirilierte ein falsches Lied, während sich der metallische Geschmack von Blut in Schlüters Mund ausbreitete. Er behorchte das Knirschen. Wahrscheinlich alle Zähne locker. Jedenfalls die, die noch übrig waren nach dem Besuch beim Zahnarzt vorgestern. Er befühlte Zähne und Gaumen mit der Zunge. Die neue Lücke fühlte sich riesig an. Und sie war es auch. Sie hinderte ihn seit vorgestern an unbefangenem Lachen. Zwei hatte der Zahnarzt ziehen müssen.
    »Lebst du noch?«
    Der Kiefer wuchs und wurde steif. Der Fuß brummte. Wenn er sich langsam bewegte, zerbrach vielleicht nichts. Nicht noch mehr.
    Schlüter schob sich zurück in die Hocke und ächzte leise. Gemüseanbau, verfluchter! Und wenn etwas gebrochen war? Es summte auch im rechten Fuß, das merkte er erst jetzt. Wie sollte es ein Rettungswagen bis in diese Gegend schaffen, in der man bei Nebel an der eigenen Einfahrt vorbeifuhr? Man war auf sich allein gestellt, wie zu Zeiten der Moorkolonisation vor zweihundertfünfzig Jahren. Aber Tomaten, das musste sein. Freilandtomaten. Die kannten damals nur die Indianer, die bekanntlich der modernen Zivilisation die wichtigsten Nahrungsmittel hinterließen. Bis vor kurzer Zeit waren die Leute bestens ohne Tomaten ausgekommen, sogar ohne Kartoffeln; sie hatten Klüten und Grütze gegessen, und jetzt bildete man sich ein, nicht ohne Tomaten leben zu können. Das Gesicht fühlte sich an wie ein hart aufgepumpter Fahrradreifen. Schlüter überlegte, an welcher Stelle er zuerst seinen körperlichen Verfall prüfen sollte.
    »Wo bist du eigentlich?«
    Er entschied sich für den Fuß. Er drehte sich um, setzte sich auf Pflanzerde, Tomatengrün und zerschellte Töpfe und tastete nach seinen unteren Extremitäten. Alles in Zeitlupe. Fühlte sich taub an. Wer baute Tomaten noch selbst an? Wer setzte sein Leben dafür aufs Spiel? Auch wenn es
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