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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich
Autoren: Wilfried Eggers
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reetgedeckten Häuser sind fast ausgestorben, nur wenige gibt es noch in den Moorgebieten, denn dort ist das Geld zu spät angekommen, zu einer Zeit, als der Hass auf die alten Häuser sich schon ausgetobt hatte.
    Vor dem Krieg gab es in Hollenfleth nur drei Sorten Menschen: Bauern, Handwerker und Schiffer. Alle lebten sie für sich, hatten wenig Verbindungen untereinander, drei geschlossene Gesellschaften, in denen über Generationen unveränderte Regeln galten. Der Krieg brachte die Flüchtlinge, fremde Eindringlinge, auf zehn Alteingesessene vier. So einer ist Kurbjuweit. Er ist 1944 in Ostpreußen geboren. Deutsch Eylau hieß die Stadt. Aber davon weiß er nichts. Seine Mutter ist im Januar 1945 von dort geflohen, mit ihm und seiner Schwester. Die war fünf Jahre älter als er. Sie ist unterwegs verhungert, als sie schon fast im Westen waren, und er, Horst Kurbjuweit, war schuld an ihrem Tod. Denn er hatte noch nicht laufen können, er hieß noch ›Kleiner‹, seine gute Mutter hatte ihn tragen müssen, den ganzen langen Weg, und darüber hatte sie die Kraft verloren, die sie brauchte, um das zweite Kind zu versorgen, das schon laufen konnte und zu schwer war, um getragen zu werden.
    Nach dem Krieg wohnten Mutter und Sohn in den Baracken. So hießen die lang gestreckten Holzhütten, die man behelfsmäßig am Rande des Sportplatzes in der Nähe des späteren Schießstandes für die Flüchtlinge und andere Obdachlose gebaut hatte. Jede Familie bewohnte einen großen Raum mit einem Kanonenofen in der Mitte; auf der einen Seite die Doppelstockbetten, auf der anderen der Tisch, an dem sie aßen. Das war alles. Wer in den Baracken wohnte, hatte keine gute Adresse.
    Kurbjuweits Vater kam erst vier Jahre nach Kriegsende in Hollenfleth an, aus russischer Gefangenschaft. Mager war er, daran erinnert Kurbjuweit sich noch. Und er hatte einen silbrig glitzernden schlierigen Blick, vor dem Kurbjuweit Angst hatte. Es war, als hätte der Vater eine Haut auf den Augen. Man hatte ja viel Angst damals, als man noch ›der Kleine‹ war. Den sibirischen Blick hatte der Vater nie verloren. Aber sie hatten ihn gerettet, seine Silberaugen, denn sie hatten die Frösche entdeckt. Der Vater hatte gut sensen können und er hatte vorneweg als Erster gemäht, bei der Ernte im Arbeitslager, das erste Schwad, in der Gefangenschaft in Sibirien. So konnte er die Frösche aufstöbern, greifen und essen. Roh. Hat sie zerrissen, das zuckende Fleisch in den Mund gestopft, hinabgewürgt und weitergemäht, bevor der Aufseher mit der Knute kam.
    Das hat der Vater immer erzählt, wenn es etwas zu essen gab, was Horschi nicht mochte, damals, als man ihn noch nicht Kurbjuweit nannte und auch noch nicht Horschi und er zu Hause noch Kleiner hieß und in der Schule ›Pisser‹, ›Ostpreuße‹ oder ›Kurbjuhu‹, weil er Augen in seinem runden Kopf hatte so groß wie die eines Uhus. Er hat die Frösche ausgekotzt, der Vater, jedenfalls die ersten, bis er sich daran gewöhnt hatte, an das zuckende gelbschleimige Fleisch, denn es hielt ihn schließlich am Leben. Das hat der Vater erzählt, jawoll. Porree ist viel besser als Frösche, Kleiner! Iss! So iss doch, verdammt noch mal! Er ertrug es nicht, wenn der Kleine etwas Essbares nicht aß; wegschmeißen durfte man nichts, das war ein Verbrechen schlimmer als Vergewaltigung. Der Vater zwang den Kleinen, das Kerngehäuse eines Apfels aus dem Schlamm einer Pfütze zu fischen, zu säubern, aufzuessen, und er brachte ihm bei, Porree zu essen. Porree war ein billiges Gemüse, das aßen sie im Herbst und Winter oft, Mutter bewirtschaftete ein Stück Gartenland, früher im Moor neben dem Haus, später, nach dem Umzug, hinter dem Deich und baute ihn selbst an. Sie schaffte die grün-weißen Stangen mit dem Fahrrad heran, schnitt sie in Ringe, kochte sie und brachte sie auf den Tisch, mit einer weißen Soße; der Porree darin war gelb und glitschig wie die Spucke, die man hinten aus dem Rachen holt und in den Staub rotzt, wo er schwabbelt wie eine Qualle; ein lebendiger Frosch war garantiert nicht schlimmer als einen Porree zu essen, den man ausgekotzt hatte, die wütende Faust des Vaters im Nacken und kein Messer in der Hand, mit dem man sich wehren konnte, sondern nur einen Löffel, den der Vater in den Porree und zum Mund zwang. Weil Kurbjuweit den ausgekotzten Porree schaffte, schaffte er auch eine Tüte mit Regenwürmern, die er fressen musste, um nicht verprügelt zu werden von den Großen in der Klasse, die
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