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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich
Autoren: Wilfried Eggers
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ihm schon mal zwanzig Mark geschickt, obwohl sie selbst nicht viel hat.
    Briefe beunruhigen Kurbjuweit. Sie stören sein Leben. Sie sind eine Gefahr, man hat es gesehen an dem Brief, den er gestern bekommen hat.
    Und diese Briefträgerin! Nichts hat er gemerkt. Und das, obwohl sie einen breiten Hintern hat. Kurbjuweit mag Frauen mit breiten Hintern, er denkt viel daran, seit er so viel Zeit hat und allein ist, und dann geht er zu den Heften, die er im Nachtschrank versteckt hat. Im Treppenhaus warf die Briefträgerin alle Briefe in die Briefkästen, sie ging den Plattenweg zu ihrem gelben Fahrrad zurück, stieg auf und strampelte fort zum nächsten Block. Kräftige Schenkel hat sie, die oben aneinanderreiben.
    Etwas liegt in der Luft.
    Kurbjuweit steht auf und knipst das Licht an, das über dem Tisch hängt. Er starrt auf den Lottozettel und legt ihn zu den anderen auf den Stapel Zeitungen auf der linken Seite des Esstisches.
    »Übersicht«, murmelt Kurbjuweit. »Ich lass mich nicht unterkriegen.«
    Er wohnt in diesem viereckigen Klotz von Gebäude, dreistöckig mit Flachdach, am Rande von Hollenfleth, im ersten Stock. An der Nordostseite ist in der Mitte der Hauseingang, durch den man über ein Treppenhaus zu den Laubengängen gelangt, von denen aus man die einzelnen Wohnungstüren erreicht. Auf jeder Seite des Treppenhauses gibt es drei Wohnungen und die äußerste auf der Westseite ist seine. Neben ihm, in der Mitte, wohnt der Holzbearbeiter, und daneben, gleich am Treppenhaus, die Thielpapesche. Es gibt kleine Wohnungen, die nur wenig über vierzig Quadratmeter groß sind, nur für eine Person, und etwas größere, die ein Schlafzimmer mehr haben. Kurbjuweit wohnt in einer von den größeren Wohnungen, obwohl er jetzt allein ist, aber er will nicht umziehen, er mag keine Veränderungen, er will alles so behalten, wie es ist. So lange wie möglich. Das findet er normal, denn so sieht er es bei den anderen auch: Jeder will seins behalten. Und Kurbjuweit möchte seine Wohnung behalten, in der er seit fünfzehn Jahren wohnt.
    Wenn du hereinkommst, stehst du in einem schmalen Flur, der keine drei Meter lang ist, links kannst du in die Küche sehen und rechts in das kleine Schlafzimmer, das Kurbjuweit benutzt. Nach zwei Schritten bist du rechts an der Tür ins Badezimmer, und weil es in der Mitte ist, hat es keine Fenster. Der Flur endet an der Wohnzimmertür, und wenn du hineingehst, siehst du rechts die Tür zum zweiten Schlafzimmer, in dem Mutter immer geschlafen hat, und früher auch Vater. Vor dem Wohnzimmer hängt ein Balkon, von dem man über die Wiesen, die Mais- und Weizenfelder der Bauern sehen kann und seit einiger Zeit auch auf die sich drehenden Windräder, die einen kirre machen. Kurbjuweits Reich ist zweiundsechzig Quadratmeter groß.
    Manhattan werden die sechs Blöcke in der Feldstraße genannt, das ist keine von den guten Adressen in Hollenfleth. Hier wohnen die Zurückgebliebenen, die Arbeitslosen, die Ausgesonderten, Gescheiterten, die Eingewanderten, Leute, die sich festklammern an den losen Planken eines kümmerlichen Lebens. Das Haus gehörte früher einem Unternehmer, der mit seinem Betonwerk drei Pleiten gemacht hat und davon jedes Mal reicher geworden ist. Nun ist der Sohn Eigentümer, der wohnt auf Teneriffa, kassiert Miete und verprasst sie unter der südlichen Sonne. Die Geschäfte lässt er von einem Verwalter erledigen. Viel Geld braucht er, der Sohn, da kann er das Licht im Laubengang nicht reparieren, das schon seit Monaten nicht mehr funktioniert. Schon der Vater ist ein Geizkragen und elender Höllenhund; er soll ein Schwimmbad haben in seinem Haus, in dem er mit seiner dritten Frau herumplanscht. Mindestens zwanzig Jahre jünger ist sie, und sie wartet darauf, ihn zu beerben, eine Vollzeithure.
    Hollenfleth ist eine Landgemeinde im Weser-Elbe-Dreieck, die sich weit und brettflach dehnt zwischen Ruthensand an der Elbe und Engelsmoor im Süden, zwanzig Kilometer von Hemmstedt entfernt und ungefähr auf der Mitte zwischen Hamburg und Cuxhaven. Ein normales Dorf, das den Krieg fast unversehrt überlebt hat, abgesehen von zwei oder drei gesprengten Brücken über die Entwässerungsfleths. Dann, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, haben die Leute den Krieg nachgeholt und alles Überkommene und Alte zerstört, als wollten sie sich ihrer Vergangenheit entledigen. Wo früher das stolze Fachwerk ehrwürdiger Gehöfte prangte, stehen heute die nüchternen Schuhkartons der Supermärkte. Die
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