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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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gewesen, die keine Lust verspürte, das gleiche Essen zweimal zu servieren. So begnügten sie sich mit einer Vorspeise aus Käse und Serranoschinken und spekulierten über die Unpünktlichkeit der Südamerikaner. Als Amalfitano endlich eintraf, erschien er in Begleitung eines auffallend schönen Mädchens. Die verblüfften Carreras dachten zunächst, es handele sich um seine Frau. Humbert Humbert, dachte Antoni entsetzt, kurz bevor Amalfitano sie ihnen als seine einzige Tochter vorstellte.
    Wie von Anna befürchtet, folgte der Verlauf des Abends den üblichen Trampelpfaden. Vater und Tochter Amalfitano erwiesen sich als wenig gesprächig. Die Professoren sprachen über Lehrveranstaltungen, Bücher, Hochschulpolitik und Hochschultratsch, ohne dass man genau wusste, was gerade an der Reihe war: aus Tratschgeschichten wurden Lehrveranstaltungen, aus Hochschulpolitik Bücher, aus Lehrveranstaltungen Hochschulpolitik, bis alle Kombinationen ausgeschöpft waren. Letztlich sprachen sie nur über eines: über ihre Arbeit. Und wenn sie einmal Amalfitano ermunterten, ähnliche Anekdoten von seiner vorigen Universität zu erzählen (einer sehr kleinen, wo ich mich nur der Vorbereitung eines Rodolfo-Wilcock-Seminars widmete, sagte er, halb wohlerzogen, halb verschämt), war das Ergebnis enttäuschend. Niemand hatte Rodolfo Wilcock gelesen, niemand interessierte das. Seine Tochter sprach noch weniger, die Professorengattinnen bekamen einsilbige Antworten, obwohl sie sich alle Mühe gaben herauszufinden, ob ihr Barcelona gefiele, ja, ob sie schon etwas Katalanisch verstünde, nein, ob sie in vielen Ländern gelebt hätte, ja, ob es ihr schwerfiele, den Haushalt ihres verwitweten und wie alle Literaturwissenschaftler zerstreuten Vaters in Schuss zu halten, nein. Als jedoch der Kaffee gereicht wurde ( nach dem Essen, dachte Carrera, als wären Vater und Tochter es gewohnt, schweigend zu essen), begannen sich die Amalfitanos an der Unterhaltung zu beteiligen. Jemand brachte gnädigerweise ein Thema auf den Tisch, das mit lateinamerikanischer Literatur zu tun hatte, und ebnete den ersten langen Exkursen von Amalfitano den Weg. Sie sprachen über Lyrik. Zur Verblüffung und zum Missfallen aller (sicher eine fingierte Verblüffung und ein fingiertes Missfallen) hatte Amalfitano eine höhere Meinung von Nicanor Parra als von Octavio Paz. Für die Carreras, die weder Parra gelesen hatten noch sich viel aus Octavio Paz machten, entwickelten sich die Dinge von da an prächtig. Als man zum Whisky überging, war Amalfitano rückhaltlos sympathisch, geistreich, brillant, und Rosa Amalfitano wurde in dem Maße, wie die Fröhlichkeit ihres Vaters aufblühte und verführte, auch ihrerseits gesprächiger, wenngleich sie immer eine Art Vorsicht oder Wachsamkeit bewahrte, die ihr kontrastierend einen besonderen Zauber verlieh, einen Zauber, der Anna geradezu einmalig erschien. Ein intelligentes, hübsches und verantwortungsvolles Mädchen, dachte sie und wurde sich bewusst, dass sie unmerklich angefangen hatte, sie zu mögen.
    Eine Woche später luden die Carreras die Amalfitanos erneut zum Essen ein, aber anstelle der Professoren nebst Gattinnen nahm als fünfter Tischgenosse Jordi Carrera teil, der Stolz seiner Mutter, ein schlanker junger Mann, in mancher Hinsicht ähnlich schüchtern wie Rosa.
    Wie von Anna erhofft, schlossen sie auf der Stelle Freundschaft. Und die Freundschaft der Kinder entwickelte sich parallel zu der der Eltern, zumindest solange die Amalfitanos in Barcelona lebten. Rosa und Jordi trafen sich bald mindestens zweimal pro Woche. Und Amalfitano und die Carreras sahen sich einmal wöchentlich oder telefonierten alle vierzehn Tage, aßen zusammen, gingen ins Kino, besuchten Ausstellungen und Konzerte, verbrachten viele Stunden zu dritt im Wohnzimmer der Carreras, winters am Kamin oder sommers im Garten, plauderten, erzählten sich Geschichten aus der Zeit, als sie zwanzig oder dreißig und vollkommen furchtlos waren. Über die Vergangenheit, ihre jeweiligen Vergangenheiten, gingen die Meinungen der drei auseinander. Anna erfüllte die Erinnerung an jene Zeit mit Traurigkeit, einer süßen, in gewisser Hinsicht behaglichen Traurigkeit, aber eben doch mit Traurigkeit. Antoni Carrera blickte mit Gleichgültigkeit auf seine heroischen Zeiten zurück; er verachtete Nostalgie und Melancholie als nutzlose, unfruchtbare Gefühle. Amalfitano dagegen machte das Erinnern schwindlig, euphorisch und niedergeschlagen, er war imstande, vor
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