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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt
Autoren: Jon Land
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näherte. Sein einziger Passagier stand in der Mitte und trotzte dem Wind und den Wellen. Der sich versteckt haltende Mann hob eine Miniaturvideokamera vor sein Auge und drückte auf den Aufnahmeknopf. Er mußte die Kamera nur leicht bewegen, um dem Boot beim Anlegen zu folgen. Als der Passagier auf den Steg trat, betätigte der Mann den Zoom und hielt in einer Nahaufnahme alle Einzelheiten des eckigen Gesichts fest, die die Linse enthüllte.
    Der Wagen des Mannes stand am Straßenrand, unmittelbar hinter den Bäumen, die das Ufer umsäumten. Er nahm das Band aus der Kamera und schob es in einen Videorecorder, der auf dem Rücksitz lag. Das Gerät war an die Parabolantenne auf dem Wagendach gekoppelt. Der Mann drückte auf den Knopf ›Senden‹, und der Inhalt des Bandes wurde augenblicklich via Satellit an die nächste Zwischenstation geschickt.
    Das Gerät piepste zweimal – das Zeichen für einen erfolgreichen Sendevorgang –, und der Mann kehrte zu seiner Wache am Ufer zurück.

5
    Hedda wartete in der Dunkelheit. Neben ihr im Schrank erschauderte wieder der junge Christopher Hanley.
    »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte sie mit soviel Zuversicht, wie sie aufbringen konnte.
    Sie befanden sich am einzigen Ort, an dem die Palästinenser nicht nach ihnen suchen würden, suchen konnten: der heiligen Residenz selbst, genau dort, wo Christopher Hanley festgehalten worden war.
    Als die Terroristen zur Vordertür hereingestürmt kamen, hatte Hedda den Jungen in eine Nische gezerrt. Diese Nische führte in einen Raum, aus dem alle Einrichtungsgegenstände entfernt worden waren. Ein großes Viereck aus leuchtendem Holz, das von dunkleren Stellen umrahmt war, wies darauf hin, daß hier einmal ein großer Teppich gelegen hatte. Am anderen Ende des Zimmers hatte Hedda eine Tür gefunden, die zu einem leeren, begehbaren Vorratsschrank führte. Im Schrank hatte sich Hedda von dem Bart befreit.
    »Wer sind …«
    »Pssst«, hatte sie den Jungen gewarnt.
    »Ich will wissen, wer Sie sind«, hatte er geflüstert. »Hat mein Vater Sie geschickt?«
    »Ja«, erwiderte sie.
    »Ich wußte es! Ich habe es gewußt!«
    Christopher klang sehr tapfer, und Hedda wollte nicht alles verderben, indem sie ihm erklärte, daß sie es noch längst nicht geschafft hatten. Alles, was auch nur entfernt mit einem erfolgreichen Ende der Mission zu tun hatte, lag außerhalb der Mauer; die hundert Meter, die sie davon trennten, hätten genauso gut tausend sein können. Doch da die Palästinenser ihre Suche auf die unmittelbare Umgebung der Mauer konzentrieren würden, konnten sie und der Junge sich im Schutz der Dunkelheit vielleicht hinausschleichen. Hedda hatte an drei verschiedenen Standorten Autos abgestellt. Wenn sie eins der drei erreichten, konnten sie die nötige Entfernung zwischen sich und die Männer bringen, die sie unbedingt fassen wollten. Dann würde Hedda auch ein Telefon finden und dafür sorgen, daß Librarian sie abholte.
    Und nun hatte sich die Dunkelheit über das Gebäude gesenkt, wie Hedda an dem spärlichen Licht erkannte, das durch den Spalt unter der Schranktür fiel. Sie und der Junge saßen auf dem Boden, dicht, aber nicht zu dicht nebeneinander. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und schaukelte sanft vor und zurück.
    Hedda dachte noch einmal die Logistik durch. Ihr Versteck befand sich im vorderen Teil der Residenz, und der Haupteingang des Komplexes lag hundert Meter weit entfernt. In ein paar Minuten würde sie Christopher durch eines der Fenster führen und dann mit ihm durch das nächste Tor entkommen. Sie rutschte näher an ihn heran und erklärte ihm flüsternd ihren Plan.
    »Ich habe Angst«, erwiderte er.
    »Ich auch. Aber wenn du alles tust, was ich dir sage, alles, wirst du morgen wieder zu Hause sein und Football spielen.«
    »Fußball«, berichtigte der Junge sie.
    Ein Gefühl der Zuneigung stieg in Hedda auf und bildete einen starken Kontrast zu der eiskalten Perfektion, mit der sie vorhin noch getötet hatte. Sie wollte, daß dieser Junge überlebte. Verdammt, sie war seine einzige Hoffnung. Irgendwo tief in ihr rührte sich eine Erinnerung. Ein anderer Junge, etwa in Christopher Hanleys Alter. Hedda versuchte, die Erinnerung vollständig zu erfassen, gab dann jedoch schnell auf, als die beruhigenden Eindrücke ihrer eigenen Kindheit an die Oberfläche drängten. Sie war auf dem Bauernhof ihrer Großeltern aufgewachsen. Sie sah ihn nun an einem Wintertag. Schnee bedeckte die Wiese. Der Atem
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