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Die Nebelkinder

Die Nebelkinder

Titel: Die Nebelkinder
Autoren: Joerg Kastner
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bohrte die Fingernägel in sein Fleisch. Der scharfe Schmerz überlagerte das Schwindelgefühl, drängte es zurück. Fieberhaft suchte er nach einer Antwort und sagte schließlich: »Im Hof des Kreuzgangs glaubte ich, den Meuchler in Richtung Küche fliehen zu sehen. Als wir dort ankamen, war er verschwunden. Aber ich hörte Geräusche, die aus dem Weinkeller kamen. Ein leises Poltern.«
    Einige der Männer nickten und Guntram meinte: »Das klingt einleuchtend. Ich sehe keinen Grund, Albin als mitschuldig anzusehen. Hören wir uns nun Bruder Graman an. Du kanntest den Elbenstrahl, Mönch, und deine Worte über die Nebelkinder haben mich neugierig gemacht. Erkläre dich!«
    Graman berichtete von den Wesen, die in nebligen Nächten wie dieser die Welt der Menschen heimsuchten, um sich an deren Besitz und zuweilen auch an deren Leibern und Kindern schadlos zu halten.
    Jodokus schlug mit der Faust auf einen Tisch, dass Becher und Pokale tanzten. »Das sind doch Ammenmärchen. Ich muss mich wundern, solch heidnisches Geschwätz ausgerechnet von einem Mönch, einem Bruder Christi, zu hören.«
    »Niemand hält diese Erzählungen für heidnisches Geschwätz, nicht hier in Mondsee«, belehrte Ursinus den Hauptmann.
    Graf Guntram blickte den Dekan überrascht an.
    »Wieso nicht?«
    »Es heißt, ohne die Nebelkinder wäre die Abtei niemals gegründet worden.«
    »Ich dachte, Herzog Odilo habe vor hundertvierzig Jahren das Kloster gegründet«, sagte Guntram.
    »Vor hundertzweiundvierzig Jahren, um genau zu sein.« Ursinus strich bedächtig durch seinen kräftigen Bart, wie um sich zu sammeln. »Das ist, was in den Chroniken steht. Doch dahinter steckt die Geschichte von den Nebelkindern. Bruder Graman kennt sich damit am besten aus. Er sammelt nicht nur heilende Kräuter, sondern auch die Geschichten, die man sich über das Nebelvolk erzählt.«
    »Dann soll Bruder Graman uns von dem Geheimnis um die Gründung der Abtei berichten!«, verlangte Guntram.
    Graman blickte nachdenklich zu den geschlossenen Fensterläden, hinter denen die Nacht lauerte - und der Nebel. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Unsicherheit und Furcht. Schließlich holte er tief Luft und begann: »Anno 747 weilte Herzog Odilo in diesem Landstrich, um seiner Jagdleidenschaft zu frönen. Seine Späher hatten einen prächtigen Rothirsch ausgemacht, einen Zwanzigender von außergewöhnlicher Größe. Odilo verfolgte ihn den ganzen Tag über ohne Rücksicht auf sein Pferd und auf seine Begleiter, die immer weiter zurückfielen. Es dämmerte bereits, und Nebel zog über dem Land auf. Aber der Hirsch war in der Nähe und ließ sein herausforderndes Röhren erschallen. Der Herzog folgte dem Geräusch, obwohl er kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte. Das Gelände wurde felsig, und Odilos Pferd verlor mehrmals fast den Halt. Da begriff der Herzog, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. Er hatte die Orientierung verloren. Nicht der Jäger hatte das Wild in die Falle gelockt, sondern es war umgekehrt gewesen. Odilo sandte ein Gebet zum Allmächtigen und bat den Herrn im Himmel um seine Führung. Wolken und Nebel rissen plötzlich auf, und der Herzog sah dicht unter sich das Wasser des Sees glänzen. Ein falscher Schritt und er wäre in die Tiefe gestürzt.«
    »Na und?«, fragte Guntram enttäuscht. »Die Geschichte ist mir bekannt. Aus Dankbarkeit stiftete Herzog Odilo am Ort seiner Errettung die Abtei, in der wir uns befinden. Weil das Mondlicht Odilo vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte, gab er dem Gewässer und der Abtei den Namen Mondsee.«
    »Ja«, bekräftigte Abt Manegold. »Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Berichte weiter, Bruder Graman!«
    »Herzog Odilo konnte den See zwar sehen, aber nicht den Weg zurück. Er hatte sich verirrt. Auf einmal scheute sein Pferd. Aus dem Nebel war ein seltsames Wesen getreten, mit dem Aussehen eines erwachsenen Mannes, aber nur so groß wie ein Knabe. Ein Kind des Nebels, ein Elb. Sein Volk siedelte damals rund um den See. Der Elb bot Odilo an, ihn zurück zum Jagdlager zu führen. Als Gegenleistung erbat der Zwerg, dass die Menschen den See so rasch wie möglich verlassen sollten, damit die Nebelkinder in Ruhe und Ungestörtheit leben konnten. Odilo willigte ein. Kurz vor dem Lager verschwand sein Führer so plötzlich im Nebel, wie er aufgetaucht war. Und später, als er am warmen Feuer saß, Braten aß und Wein trank, hielt der Herzog den Elb für einen Spuk, einen Mahr, gesandt von der finsteren Nacht und der
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