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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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um die Kleinfamilie herum, schien nur auf den Moment zu warten, in dem die Krise ausbrechen würde. Insgeheim spekulierte sie vielleicht sogar darauf, sie würde ihn, Gerald, wieder zurückbekommen und Gerald als Single-Vater würde sie viel mehr brauchen als jetzt. Gerald atmete tief ein. Vielleicht würde es ja so kommen, aber diesen Abend würde er ohne seine Mutter durchstehen. Und auch ohne Batzko, der vermutlich gerade seinen ersten Drink an der Bar des Fitnesscenters nahm, nachdem er in einer halben Stunde fünfzigtausend Kilo gestemmt hatte. Sie würden ihn hoffentlich etwas abkühlen; wenn Batzko seinen Jähzorn nicht besser in den Griff bekam, würde Gerald ihm vor jeder Zeugenbefragung Handschellen und einen Maulkorb anlegen müssen.
    Severin wurde unruhig. Er schien mittlerweile genau zu merken, wann man auf ihn konzentriert war und wann nicht. Gerald hob ihn über die Schulter, stellte sich ans Fenster, erzählte etwas über die Autos, die Straßenbahn, die Bewohner, die mit Einkaufstaschen in ihre Häuser zurückkehrten. Aber die Unruhe steigerte sich zu einer Quengelei, und Gerald begriff, dass es Zeit für die Flasche war.
    Eine halbe Stunde später lag Severin auf dem Wickeltisch. Gerald hatte während des Flaschegebens für sich selbst ein paar Wurstscheiben aus dem Kühlschrank genommen, auf trockenes Brot gelegt und mit zwei Flaschen Bier hinuntergespült. Nun fühlte er sich leicht beschwipst. Aber Severin war gesättigt und wirkte müde. Seine Augen verfolgten seinen Vater, versuchten mit größter Anstrengung offen zu bleiben.
    Der perfekte Moment, um ihm eine frische Windel für die Nacht anzuziehen. Gerald trug ihn ins Bad und zog ihn auf dem Wickeltisch aus. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, an ihm zu riechen. Wenn Engel einen Geruch hätten, wäre es der von Babys. Unvermittelt musste er an Franziskas Körper denken. Sie war ein wenig größer und schlanker als Nele. Sie hatten sehr behutsam miteinander geschlafen. Anders als Nele, die ihn immer direkt aufgefordert hatte, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, und regelrecht schnalzte, wenn ihre Erregung stieg, war Franziska zurückhaltend und leise geblieben. Aber sie hatte sich sehr viel Zeit gelassen, seinen Körper zu erkunden, von den Ohrläppchen bis zu den Zehen, in einer Intensität und Ausdauer, in der vielleicht Blinde einen Gegenstand erkunden. Gerald hatte ihr vollkommen vertraut, er hatte sich angenommen gefühlt und nicht als sexueller Dienstleister. Dieses Gefühl hatte ihm Nele manchmal vermittelt, wie er sich nun eingestehen musste.
    Wenig später trug er Sevi, dessen Augen glasig wurden, nach nebenan und legte ihn neben sich ins Bett. Dann schloss er selbst die Augen, ein kleiner Akt der Manipulation, der manchmal erstaunlich gut funktionierte. Sevi blieb still, und als Gerald nach wenigen Minuten die Augen öffnete, war sein Sohn eingeschlafen. Die kleine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Gerald hoffte inständig, dass er bis mindestens vier Uhr durchschlafen würde.
    Er ging ins Wohnzimmer und füllte ein Wasserglas mit Whiskey. Vor dem ersten Schluck zögerte er noch: Was, wenn Severin wach würde, gewickelt werden musste, wenn er plötzlich hohes Fieber bekäme und Gerald einen Arzt kommen lassen müsste – sollte er den mit einer Whiskeyfahne begrüßen? Doch dann verlor selbst diese Vorstellung ihren Schrecken, und er nahm zwei kräftige Schlucke.
    Nach einer halben Stunde, in der er nichts weiter tat, als noch mehr zu trinken und dem abnehmenden Verkehr auf der Lindenschmitstraße zuzuhören (da war kein Taxi, das vor dem Haus hielt, keine Nele, die ausstieg, die Treppen hochrannte, ins Wohnzimmer kam und ihn um Entschuldigung bat), griff er zum Telefon.
    Er musste es viermal klingeln lassen, bis er ihre Stimme hörte.
    »Ja? Hallo?«
    Er schluckte, wischte sich über den Mund, als könne er dadurch den Alkoholkonsum verdecken.
    »Ich bin es. Entschuldige, wenn ich dich störe.«
    Sie zögerte einen Moment und seufzte dann leicht.
    »Du störst nicht. Was gibt’s?«
    »Mein Gott. Ich fühle mich derzeit so weit weg von dem Punkt, überhaupt zu erkennen, was gut für mich ist. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das jemals gewusst habe. Nur bei dir habe ich gewusst, dass es gut für mich ist, was wir tun.«
    Sie schwieg, und mit jeder Sekunde vergrößerte sich seine Angst vor ihrer Antwort. »In diesem Moment bist du alles für mich. Alles, was ich habe und was ich will. Leg bitte nicht
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