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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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Ängste erfahren. Wie ein Schauspieler, der seinen Text spricht und plötzlich feststellt, dass er ihn selbst und nicht die dargestellte Figur betrifft.
    Dann hörte er, wie Severin zuerst schluchzte und schließlich zu schreien begann. Vermutlich musste er noch einmal gewickelt werden. Gerald stand auf und spürte zu seiner großen Erleichterung, dass er sicher auf den Beinen stand. Severins Schreien wurde lauter. Überstürzt verabschiedete sich Gerald von Franziska und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie über das vorzeitige Ende des Telefonats erleichtert war.

13
    »Wo waren wir stehen geblieben?«
    Dr. Chateaux stand mit dem Rücken gegen seinen Schreibtisch gelehnt. Er war angezogen wie am Vortag, nur sah er erschöpfter aus als sonst. Die Augen hatten sich tief in die Höhlen verkrochen, er war blass. Die ironische Überlegenheit, die Batzko immer wieder provoziert hatte, war einer Abwehrhaltung gewichen, die Geralds Mitgefühl erregte. Chateaux wirkte so ausgezehrt, dass dessen kräftigte Schulterpartie aus seiner schmalgliedrigen Konstitution hervorstach wie eine Verwachsung
    »Dabei, dass Sie die Hoffnung vermutlich aufgeben können, in absehbarer Zeit Wasser in Ihren Pool zu lassen. Sollte er jemals fertig werden, versteht sich.«
    Nach der Begegnung mit Chateaux’s Tochter hätte Gerald gern eine andere Eröffnung gewählt, aber Batzko tickte eben anders.
    »Hatte ich Ihnen gestern nicht darauf geantwortet?«, fragte Chateaux mit gepresster Stimme.
    »Muss ich vergessen haben«, gab Batzko zurück.
    Der Arzt zuckte die Achseln und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Aus Gedächtnislücken lässt sich schwer eine Befragung durchführen, finden Sie nicht? Aber ich kooperiere gerne. Sie haben ausführlich von Ihrem Gespräch mit meiner Bank erzählt.«
    »Ja, und jetzt fällt mir auch wieder ein, was ich erfahren habe. Dass Ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Da kann man schon gut verstehen, warum Sie in das Import-Export-Geschäft mit psychisch Kranken eingestiegen sind, die den Fehler gemacht haben, bei Ihnen auf Hilfe zu hoffen.«
    »Ich verbitte mir …«, rief Chateaux und ballte die Fäuste, als wollte er sich auf Batzko stürzen. Doch ein paar Sekunden später nur fiel er zurück in seine schlaffe Haltung. »Psychisch Kranke, sagten Sie. Ja, so nennen die meisten sie eben in ihrem Abgrenzungswahn von krank und gesund, von schön und hässlich, reich und arm. Unser Definitionswahn macht leider vor nichts Halt. Aber wenn etwas krank ist, dann ist es unser Denken. In meiner Psychotherapie heile ich keine Krankheiten und keine Symptome. Ich heile Sichtweisen . Meine Patienten sollen verstehen, dass weniger ihre vermeintliche Krankheit das Problem ist, sondern die Kategorisierung eines bestimmten Phänomens als Erkrankung, wobei ich, um Ihrem vorhersagbaren Protest zuvorzukommen, nicht von Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Halluzinationen, Pädophilie rede. Ich spreche von unserer wohlvertrauten Hölle aus Komplexen, Ängsten und unterdrückten Bedürfnissen. Wir müssen den Blick weiten, uns ganz annehmen, bis wir sehen, dass das Leben nicht krank und gesund unterscheidet, alt und jung, nicht homosexuell, bisexuell und heterosexuell. Das Leben ist weder leicht noch schwer noch hart noch grausam. Es ist . Das ist eigentlich alles. Ein unermesslicher Fluss aus Bedürfnissen, Interessen, Beziehungen. Jedes Leben ist ein Fluss, dessen einzige Bestimmung es ist, von der Quelle zur Mündung zu fließen. Diesen Prozess nenne ich ›leben‹, und ich bin als Arzt daran interessiert, dass meine Patienten wieder, um im Bild zu bleiben, in ihren Fluss kommen, in ihr Leben zurückfinden.«
    »Amen«, sagte Batzko.
    Gerald übernahm das Wort: »Alexander Faden und Arno Reuther …«
    »… habe ich zunächst die Scham genommen, ihren Körper als Monster zu empfinden. Alle wollen heute schöner, stärker, schneller, jünger werden; aber meine Patienten sehnen sich nach einer Amputation oder einer Querschnittslähmung. Sie haben mit niemandem gesprochen, der nicht selbst Patient ist. In meiner Gruppe haben sie sich öffnen und die Vereinsamung durchbrechen können. Sie haben eine Sprache für ihre Erkrankung finden können. BIID gehörte damit endlich zu ihrer Persönlichkeit und ihrer Biografie. Dann haben sie sich selbst erst einmal genau prüfen müssen, ob ihre BIID-Erkrankung sie tatsächlich so weit vom Leben trennt, mit anderen Worten: größer ist als sie selbst, dass es keine
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