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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe
Autoren: Frank Schmitter
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übergab ihm Severin, als wäre er ein Paket, nahm eine Handtasche von der Garderobe und packte ihr Portemonnaie, das Handy und ein Päckchen Taschentücher hinein.
    »Dann bin ich jetzt mal weg«, sagte sie, eine Hand am Türgriff. »Es ist vorbereitete Milch im Kühlschrank. Er wird heute nur noch eine Flasche trinken, in circa einer Stunde. Aber eine zweite für die Nacht oder am Morgen ist auch schon fertig. Stell sie ins Wasserbad, sobald er unruhig wird. Pass auf die Temperatur auf, ganz langsam erwärmen.«
    »Ich mache es nicht zum ersten Mal«, sagte er gereizt.
    »Ich aber«, sagte sie und warf einen letzten kontrollierenden Blick in den Spiegel. Dann war sie verschwunden. Gerald ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und streichelte das Gesicht seines Sohnes. Severin fixierte ihn; es war, als ob seine blauen Augen einen Gang hochschalteten, so sehr intensivierte sich der Blick. Er gurrte etwas, dann lächelte er. Aber nicht die Lippen lächelten, sondern das ganze Gesicht schien sich zu einem Lächeln zu formen. Alles ist eins bei ihm, dachte Gerald, der Kopf, der Körper, das Gefühl. Doch mit der Zeit verlieren wir diese Fähigkeit, uns voll und ganz einem Gefühl hinzugeben. Wieder gurrte Severin. Er bewegte die Beine, strampelte leicht.
    »Wenn wir deine Mutter treffen wollten«, sagte Gerald und reichte Severin seinen Zeigefinger, den er sofort mit einer Hand fest umschloss, »müssten wir nur ihrem Parfüm folgen. Es legt eine lange, lange Spur, es würde uns zu ihr führen, wenn sie beispielsweise in die Schwabinger Altstadt gefahren wäre, wo bekanntlich tausend attraktive Männer pro Quadratkilometer in den Kneipen anzutreffen sind.«
    Attraktiv? Wer war eigentlich für Franziska attraktiv? Ein sportlicher, unbeschwerter Student oder doch ein arrivierter Erfolgstyp wie Harald Steinhaus? Steinhaus. Der Name schob sich wie ein Schutzwall in Geralds Bewusstsein. Batzko hatte nach der Unterredung bei Chateaux mit der Bank telefoniert: Genauere Auskünfte würde er erst am Montag bekommen, aber was er inoffiziell schon erfahren hatte, ließ die Goldlegierung an der Vita des Börsen-Yuppies abblättern. Ja, er hatte tatsächlich viel Kohle verdient an der Börse, aber er hatte sie in den letzten Jahren wieder in den Sand gesetzt. Sieh an, hatte Batzko gefeixt. Dann hat er doch nicht rechtzeitig den Absprung geschafft und vielleicht die Kontrolle verloren, ist ausgerastet, als Reuther bei ihrem letzten Treffen von der Operation erzählte, die ihn für Wochen, wenn nicht für Monate außer Gefecht gesetzt hätte.
    Severin murrte, wand sich in Geralds Arm. Er hungerte nach Beschäftigung, Bewegung, darauf, bespaßt zu werden. Gerald schloss abwechselnd das linke und rechte Auge, nahm die Babyfaust zwischen seine Lippen und ging mit seinem Sohn auf dem Arm ins Wohnzimmer. Er setzte sich in den Fernsehsessel, nahm einen Untersetzer aus Kork vom Bücherregal – dort hatte er immer sein Glas platziert, wenn er, es musste Jahrhunderte her sein, Musik gehört oder sogar Klarinette geübt hatte – und gab ihn Severin, der ihn umfasste, an ihm kaute, ihn auf seinen Bauch fallen ließ und wieder aufnahm.
    Gerald schaute sich um in diesem Zimmer, das in einen merkwürdigen Dornröschenschlaf gefallen schien. Staub auf der Musikanlage, auf der Klarinette, den Böden des Bücherregals. Hier hatte sich nichts bewegt, aber um Gerald und Nele war die Welt aus den Fugen geraten. Die Nacht mit Franziska hatte Gerald nicht nur bewusst gemacht, wie sehr er die Zärtlichkeiten und den Sex vermisst hatte. Sie hatte auch seine Wahrnehmung Nele gegenüber verändert. Nein, das war längst keine nachgeburtliche, mit sexueller Apathie einhergehende Depression mehr. Die Wahrheit war vermutlich einfacher und viel brutaler. Sie hatte keine Lust mehr auf ihn, sie war seiner überdrüssig, und nun sah sie den Zeitpunkt gekommen, ihm das in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. In ihrem Look hatte sie binnen Minuten zehn Batzkos um sich, wenn sie nur an einem Tresen lehnte.
    Er spürte plötzlich eine große Angst vor diesem Abend und dem Alleinsein mit Severin. Wann würde sein Sohn einschlafen? Würde er selbst nicht zu erschöpft sein, um ihn mitten in der Nacht zu versorgen, wenn er aufwachte und Nele noch nicht zurückgekehrt war? Er spielte mit dem Gedanken, seine Mutter anzurufen, um sie zu sich zu bitten, aber dazu war seine Verzweiflung dann doch nicht groß genug. Seine Mutter schlich seit Monaten auf Zehenspitzen
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