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Die Nadel.

Titel: Die Nadel.
Autoren: Ken Follettl
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ihre Mutter. Ihr Haar war von einem tiefen
     Dunkelrot, lang und kräftig, glänzend und prachtvoll. Sie hatte weit auseinanderstehende
     bernsteinfarbene Augen in einem ovalen Gesicht. Als sie den Pfarrer mit ihrem offenen,
     direkten Blick anschaute und mit ihrer festen, deutlichen Stimme »Ja« sagte, war er
     verblüfft und dachte: »Mein Gott, sie meint es ernst!« – welch seltsamer Gedanke eines
     Pfarrers mitten in einer Trauung.
    Die Familie auf der anderen Seite des Kirchenschiffs
     hatte auch gewisse Kennzeichen. Davids Vater war Rechtsanwalt. Sein ständiges Stirnrunzeln
     war berufsbedingt und verbarg ein sonniges Gemüt. (Er war im letzten Krieg Major der
     Infanterie gewesen und dachte, daß all das Gerede über die RAF und den Luftkrieg eine
     Modeerscheinung sei, die bald vorübergehen werde.) Doch niemand sah so aus wie er, nicht
     einmal sein Sohn, der jetzt am Altar stand und versprach, seine Frau bis in den Tod zu lieben,
     der vielleicht, was Gott verhüte, unmittelbar bevorstand. Nein, sie alle mit ihrem fast
     schwarzen Haar, der dunklen Haut und den langen, schlanken Gliedern glichen Davids Mutter, die
     jetzt neben ihrem Mann saß.
    David war der größte von allen. Er hatte im letzten Jahr
     an der Cambridge University eine Reihe von Hochsprungrekorden gebrochen. Für einen Mann sah
     er beinahe zu gut aus – sein Gesicht wäre feminin gewesen, hätte es nicht den dunklen,
     nicht zu beseitigenden Schatten eines starken Bartes gehabt.Er rasierte
     sich zweimal am Tag. Seine Wimpern waren lang, und er sah intelligent aus, was stimmte, und
     feinfühlig, was nicht stimmte.
    Es war ein Idyll: Zwei glückliche, hübsche Menschen,
     Kinder von großbürgerlichen, wohlhabenden Familien, wie sie das Rückgrat Großbritanniens
     bildeten, heirateten bei schönstem Sommerwetter, das England bieten kann, in einer
     Dorfkirche.
    Als sie zu Mann und Frau erklärt wurden, waren die Augen beider Mütter
     trocken, und beide Väter weinten.
    Während ein weiteres Paar
     klebriger, champagnernasser Lippen mittleren Alters ihre Wange küßte, dachte Lucy, daß der
     Brauch, die Braut zu küssen, doch etwas Barbarisches an sich hatte. Wahrscheinlich leitete er
     sich von noch barbarischeren Bräuchen im Mittelalter ab, als es jedem Mann des Stammes
     gestattet war – jedenfalls wurde es Zeit, daß die Leute sich endlich zivilisiert benahmen
     und die ganze Sache abgeschafft wurde.
    Lucy hatte gewußt, daß ihr dieser Teil der
     Hochzeit nicht gefallen würde. Sie mochte Champagner gern, aber sie war nicht gerade
     verrückt nach Hühnerschlegeln oder unförmigen Kaviarhäufchen auf kaltem Toast. Und dann
     die Reden und die Photographien und die Witze über die Flitterwochen . . . Aber es hätte
     schlimmer kommen können. Im Frieden hätte ihr Vater die Albert Hall gemietet.
    Bis
     jetzt hatten neun Leute gesagt: »Mögen all eure Sorgen klein sein«; einer hatte mit kaum zu
     übertreffender Originalität erklärt: »Ich wünsche mir, daß mehr als ein Zaun um euren
     Garten läuft.« Lucy hatte zahllose Hände geschüttelt und so getan, als überhöre sie
     Bemerkungen wie: »Ich hätte nichts dagegen, heute nacht in Davids Pyjama zu stecken.« David
     hatte eine Rede gehalten, in der er Lucys Eltern dafür dankte, daß sie ihm die Hand ihrer
     Tochter gegeben hatten, als wäre sie etwas Lebloses, das man wie ein Geschenk in weißen
     Satin wickelt und dem verdientesten Bewerber überreicht. Lucys Vater war einfallslos genug
     gewesen zu verkünden, daß er keine Tochter verliere, sonderneinen Sohn
     gewinne. Alles war hoffnungslos gaga, aber man tat es eben für seine Eltern.
    Ein
     entfernter Onkel tauchte, leicht schwankend, aus der Richtung auf, wo die Bar war. Lucy
     unterdrückte ein Schaudern. Sie stellte ihn ihrem Mann vor: »David, das ist Onkel Norman.«
     Onkel Norman schüttelte kräftig Davids knochige Hand. »Na, mein Junge, wann beginnt dein
     Einsatz?«
    »Morgen, Sir.«
    »Was, keine Flitterwochen?«
    »Nur
     vierundzwanzig Stunden.«
    »Aber wie ich höre, hast du gerade erst deine
     Pilotenausbildung beendet.«
    »Ja, aber ich konnte schon vorher fliegen. In Cambridge
     gelernt. Bei der gegenwärtigen Lage wird jeder Pilot gebraucht. Ich nehme an, daß ich schon
     morgen in der Luft bin.«
    Lucy sagte ruhig: »David, bitte!« – er schenkte ihr
     jedoch keine Beachtung.
    »Was wirst du fliegen?« fragte Onkel Norman mit der Begei-
     sterung eines Schuljungen.
    »Eine Spitfire. Ich
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