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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings
Autoren: Petra Oelker
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Brombeerranken und anderem Gewucher erstickten Hecke den Durchgang. Aber er bewegte sich nicht. Gleich. Gleich würde er gehen, zuerst musste er wissen, wieso er hier hereingeraten war. Ohne es zu bemerken. Dass er sich in dieser einer Höhle gleichenden Ecke wiederfand, beunruhigte ihn.
    Selbst wenn er zugestand, dass seine Sehkraft ein wenig nachließ, so doch keinesfalls genug, um sich zu verirren. Verirren. Im eigenen Garten? Das war lächerlich. So nahm er entschlossen den Weg hinaus aus diesem bedrückenden Rund und zurück auf vertrautes Terrain.
    Er ging rasch, passierte schon nach wenigen Schritten den Küchengarten mit den Holunderbüschen entlang der Glashäuser und erreichte den Lustgarten. Mit den Blumenbeeten und -rabatten, den Ziersträuchern, jungen und alten Bäumen und der zum Alstersee und dem Bootsanleger hinunterführenden Rasenfläche glich er schon einem kleinen Park in englischer Manier.
    Alles war wieder vertraut, doch wo die Farben in der Herbstsonne geglüht hatten, wirkte nun alles bleich, die Konturen verschwommen, die Stille dumpf. Eine breite Nebelwand kam rasch über den See, die Vorstadt St. Georg mit dem kupfergrünen Kirchturmhelm am jenseitigen Ufer verschwand schon, ihre Gärten und Dächer waren nur noch Schemen. War es so, wenn man blind wurde? Seine Augen suchten seine Frau. So dicht konnte kein Nebel sein, dass er ihre hochgewachsene Gestalt in dem lichtblau leuchtenden Kleid nicht irgendwo zwischen den Büschen und Stauden entdeckte. Er wollte sie umarmen, ihre Lebendigkeit fühlen, ihre Wärme. Doch Anne war nicht da. Beim Rosenrondell stand nur der Korb mit den Hagebutten, noch nicht sehr voll, daneben lagen Schere und Messer. Als habe sie beides einfach fallen lassen. Nachlässig, was nicht ihrer Art entsprach.
    «Anne?» Seine Stimme klang rau, er musste lauter rufen. Sicher war sie zum Ufer gegangen, um das Schauspiel des herantreibenden Nebels zu sehen. Sie stand gerne dort und beobachtete den sich ständig verändernden Himmel über der weiten Wasserfläche. Manchmal mit sehnsüchtigen Augen, aber sie bestritt dann stets entschieden, dass sie beim Blick über den See noch nach all den Jahren das Heimweh nach ihrer Insel einholte. Oder war sie zum Tor hinausgegangen? Auch dort standen von Hagebutten schwere Rosenbüsche.
    Allerdings ohne ihren Korb? Ohne die Gartenschere?
    «Anne?», rief er, und als er ohne Antwort blieb, noch einmal: «Anne!»
    Er hatte sie verloren. Für die Dauer eines raschen Gedankens, einer obskuren Vorahnung, war er dessen gewiss. Bis sie aus dem Gartenzimmer auf die Terrasse trat und ihm winkte. Das tiefe Glücksgefühl dieses Moments würde er lange nicht vergessen.
     
     
    IM OKTOBER
     
    F ür gewöhnlich weckte sie die Turmuhr von St. Nikolai. Als heute die sechs Glockenschläge erklangen, hatte sie längst die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen und die Bänder ihrer Röcke festgezogen, ein Vorrat an reinen Schürzen wartete stets im Flurschrank vor der Backstube. Ihre je nach Fall des Sonnenlichtes dunkelblonden oder lichtbraunen Locken lagen in Zöpfen fest um den Hinterkopf, nach dem Frühstück würde sie eine weiße Haube bedecken – Haare im Konfekt verdarben den guten Ruf. Sie schüttelte das Kopfkissen auf, breitete die Decke ordentlich über das schmale Bett und erlaubte sich noch einen Moment am Fenster, bevor sie es verriegelte. Die Morgendämmerung tauchte die Stadt in mattes Grau, in einer halben Stunde ging die Sonne auf, und aus den Straßen und Höfen, aus geöffneten Fenstern drangen die Geräusche des frühen Tages.
    Erste schwerbeladene Fuhrwerke rollten auf dem Weg zum Hafen, zu den Märkten oder den mit dem Sonnenaufgang geöffneten Stadttoren durch die engen Straßen. Da waren auch Stimmen, noch gedämpft, als erlaube die erst weichende Dunkelheit noch keine lauten Töne oder gar Geschrei, ein Hahn krähte, ein anderer antwortete, dann noch einer, aufgeregtes Hundegebell mischte sich hinein, um mit einem schmerzerfülltem Aufjaulen abrupt zu verstummen. Der Kupferschmied mochte es nicht, wenn sein vierbeiniger Wächter nur wegen des Federviehs bellte.
    Ein Fensterflügel quietschte, eine Decke wurde ausgeschüttelt, dann ein atemloses Husten. Marlene, die Hausmagd der Bölsches, hustete immer, wenn sie die Betten ihrer Herrschaft schüttelte, die ganze Nachbarschaft amüsierte sich darüber. Allerdings ohne dass die Bölsches davon erfuhren, Johannes Bölsche gehörte als Oberalter seines Kirchspiels zu den wichtigen
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