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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings
Autoren: Petra Oelker
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KAPITEL 1
    HAMBURG, IM SEPTEMBER 1773
     
    «I ch bin ein glücklicher Mann.»
    Das ging Claes Herrmanns durch den Kopf, als er der über den sandigen Zufahrtsweg davonschaukelnden Kutsche nachblickte.
    Er lächelte, wie er sonst über ein fröhliches, Possen reißendes Kind lächeln mochte, denn dieser Satz widersprach seinem Naturell. Oder dem hanseatischen Usus, was möglicherweise das Gleiche war. Als wohlhabender Großkaufmann im fortgeschrittenen Alter, selbstverständlich von bestem Leumund und in geordneten Familienverhältnissen, pries man sich als zufrieden, höchstens als «vom Glück begünstigt». Aber glücklich? So viel Überschwang war unüblich.
    Immer noch lächelnd, schlenderte er zurück in den Garten. Die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu, nach einem strahlenden Tag wurde ihr Licht matt, doch der Garten wirkte im Übergang vom prallen Sommer zur Milde des Herbstes noch kraftvoll, seine Farben zeigten eine Leuchtkraft, als gelte es, den kürzer werdenden Tagen noch einmal mit aller Kraft zu trotzen.
    Als ihn bei der jungen Robinie ein lautes Zwitschern aufhorchen ließ, blieb er stehen, um in ihrer Krone nach dem gefiederten Sänger zu suchen. Früher hätte er mit so etwas keine Zeit vertan, nun – und besonders heute – gefiel es ihm, dieses Stehenbleiben, einzig um nach einem Vogel Ausschau zu halten. Suchend wanderte sein Blick weiter zum Dach des Gartenhauses, zum den First krönenden Dachreiter mit der kleinen Glocke. Und da saß er, eine winzige dunkle Silhouette gegen den Himmel, hoch auf der Wetterfahne schmetterte er sein Lied.
    Claes Herrmanns gab sich keine Mühe, herauszufinden, was für eine Art Vogel da so übermütig sang, als sei es ein heiterer Maimorgen. Er kannte sich mit den Finessen des Handels bis weit nach Übersee aus, auch mit der Politik, neuerdings sogar ein wenig in der Musik, aber Flora wie Fauna waren für ihn nur eine Art Mobiliar der Natur. In seinen gut fünfzig Lebensjahren war ihm nie in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken. Nicht einmal aus Notwendigkeit, denn er hatte niemals materielle Not oder Hunger gelitten, war niemals obdachlos gewesen. Er wusste, dass das nicht selbstverständlich war, dass alles Weltliche vergänglich ist, aber bis in die Tiefe seiner Seele kannte er keinen echten Zweifel an der Sicherheit seines Lebens, der Bewahrung des Wohlstands, an der Zugehörigkeit zu den ersten Familien der Region. Er fühlte sich in seinem Leben wie in seiner Stadt sicher aufgehoben.
    «Claes?» Anne Herrmanns’ Stimme klang amüsiert. «Wonach schaust du, Lieber? Etwa nach den Sternen?»
    Sie kam den mittleren, leicht geschwungenen Gartenweg heran, mit den vertrauten raschen Schritten, die ihrem schlanken Körper diese Leichtigkeit und natürliche Eleganz gaben, die ihn selbst nach ziemlich genau acht Ehejahren immer wieder überraschten und mit Stolz erfüllten. Anne Herrmanns war gewiss nicht das, was man an der Elbe wie an der Themse als klassische Schönheit bezeichnete. Aber ihre grünen Augen mit dem ganz leichten Silberblick, die etwas zu spitze, überaus vorwitzige Nase, der, am Ideal gemessen, eindeutig zu große Mund, der lange Hals, die vom nachlässigen Umgang mit dem Sonnenschirm zeugenden Sommersprossen hatten ihn von Anfang an stärker angezogen als die Vorzüge der anderen Damen, die damals gerne die zweite Madam Herrmanns geworden wären. Auch bei ihren ersten Begegnungen auf Annes Heimatinsel Jersey war ihre Frisur stets in Unordnung gewesen. In Aufruhr, hatte er damals amüsiert gedacht, wie er sich gerne erinnerte.
    Sie berührte zart seine Wange, mit der linken Hand, die rechte war erdig.
    «Für die Sterne ist es noch zu früh», wandte er vernünftig ein. Anstatt die Sache mit dem Vogel zu erklären, strich er eine ihrer rötlich schimmernden, aus ihrer wie gewöhnlich verrutschten Frisur entkommene Haarsträhne hinters Ohr: «Manchmal frage ich mich, warum ich einen Gärtner samt Gehilfen bezahle, wenn meine Frau deren Arbeit verrichtet.»
    Diese Frage war ein ständig wiederkehrendes Spiel zwischen ihnen, seit er sie zum ersten Mal am Rand einer Rabatte kniend gefunden hatte, die Hände schwarz von Gartenerde, eine große, nicht minder beschmutzte Schürze vor dem teuren Kattunkleid. Wo sie mit dem Handrücken den Schweiß abgewischt hatte, zierten erdige Streifen ihr Gesicht, neben sich hatte sie einen Haufen gejäteten Unkrauts und einen Korb mit noch unscheinbaren Pflänzchen. Natürlich kümmerten sich alle
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