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Die Mutter der Königin (German Edition)

Die Mutter der Königin (German Edition)

Titel: Die Mutter der Königin (German Edition)
Autoren: Philippa Gregory
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Mittagessen aufgetragen, doch es ist fast niemand da – nur die Männer des Haushalts, die zu alt oder zu schwach zum Kämpfen sind oder in früheren Schlachten in den Diensten der Königin verstümmelt wurden. Ich sehe einen Diener an, der sehr geschickt ist mit seinem einen Arm, und mich schaudert bei dem Gedanken an meinen Sohn, der noch alle Gliedmaßen hat, irgendwo da draußen im Schnee im Angesicht eines Kavallerieangriffs.
    Die Königin sitzt stolz in der Mitte des hohen Tisches, ihren Sohn zur Seite, und zelebriert förmlich das Essen. Ich sitze am Kopf des Tisches ihrer Hofdamen und schiebe während der ganzen Mahlzeit die Fleischstücke eines Ragouts auf meinem Teller hin und her. Wer keinen Gemahl, Sohn oder Bruder auf dem Schlachtfeld hat, isst mit gutem Appetit. Uns Übrigen schnürt es den Magen zu.
    Am Nachmittag kommt ein steter Strom von Männern von der Schlacht – die, die noch gehen können. Sie berichten von Hunderten von Männern, die auf der Straße nach York sterben, von Tausenden auf dem Schlachtfeld. Die Krankenstube der Abtei, das Armenhospital, das Leprakrankenhaus, Kirchen und Herbergen öffnen ihre Türen, überall werden Verbände angelegt, Wunden versorgt und Gliedmaßen amputiert. Vor allem aber werden die Leichen aufgestapelt, damit sie beerdigt werden können. York ist wie ein Beinhaus, durch das südliche Stadttor quillt ein steter Strom von Männern, die verbluten und hereintaumeln wie Betrunkene. Ich möchte hinuntergehen und in jedes Gesicht sehen, aber ich fürchte mich vor den blicklosen Augen von Richard oder Anthony, ihr Gesicht zerfetzt von einer dieser neuen Faustfeuerwaffen oder zerschlagen von einer Axt. Ich zwinge mich, in den Gemächern der Königin am Fenster sitzen zu bleiben, eine Näharbeit in den Händen, und auf das Brüllen und Poltern einer näher rückenden Armee zu lauschen.
    Es wird dunkel, gewiss ist der Tag vorbei? Niemand kann im Dunkeln kämpfen, doch die Glocken läuten zur Komplet, und noch immer kommt niemand, um uns den Sieg zu verkünden. Der König ist in der Abtei und betet. Er kniet dort seit neun Uhr heute Morgen, und jetzt ist es neun Uhr abends. Die Königin schickt seine Kammerjunker, ihn zu holen, ihm etwas zu essen zu geben und ihn ins Bett zu stecken. Wir warten zusammen am erloschenen Feuer. Sie hat die Füße auf die Truhe mit ihrem Schmuck gelegt, ihr Reiseumhang liegt auf dem Stuhl neben ihr.
    So sitzen wir die ganze Nacht. Erst in der Morgendämmerung, im kalten Licht des frühen Frühlingsmorgens, klopft es an die Tür der Abtei. Marguerite erhebt sich. Wir hören, wie der Pförtner langsam die Tür öffnet und eine Stimme nach der Königin fragt. Marguerite nimmt ihren Umhang und geht hinunter. «Weckt den König auf», sagt sie zu mir, bevor sie den Raum verlässt.
    Ich laufe zu den Gemächern des Königs und schüttele den Kammerjunker wach. «Nachricht vom Schlachtfeld, macht Seine Gnaden zur Abreise bereit», sage ich knapp. «Sogleich.»
    Dann eile ich hinunter in die große Eingangshalle, wo ein Mann in der Livree Cliffords vor der Königin kniet.
    Sie wendet mir ihr bleiches Gesicht zu, und ganz kurz sehe ich die verängstigte junge Frau, die an ihrem Hochzeitstag nicht heiraten wollte, bevor ihr nicht jemand die Zukunft vorhersagte. Doch damals habe ich das hier nicht vorhergesehen. Ich wünschte, ich hätte sie warnen können. «Wir haben verloren», sagt sie niedergedrückt.
    Ich trete vor. «Mein Gemahl?», frage ich. «Mein Sohn?»
    Der Mann schüttelt den Kopf. «Ich weiß es nicht, Euer Gnaden. Es waren zu viele. Das Schlachtfeld ist mit Toten übersät, es ist, als wären alle Männer aus ganz England dort gefallen. So etwas habe ich noch nie gesehen …» Er bedeckt die Augen mit der Hand. «Einige sind über eine kleine Brücke entkommen», berichtet er. «Die Yorkisten haben ihnen nachgesetzt, und dann haben sie auf der Brücke gekämpft. Die ist eingebrochen, und alle sind ins Wasser gestürzt, Lancastrianer, Yorkisten, alle miteinander, und in ihren schweren Rüstungen ertrunken. Die Wiesen sind von Leichen übersät, der Fluss ist voller Männer, das Wasser rot. Der Schnee fällt unaufhörlich herab wie Tränen.»
    «Euer Lord», flüstert Marguerite. «Lord Clifford?»
    «Tot.»
    «Mein Befehlshaber, Sir Andrew Trollope?»
    «Tot. Und Lord Welles und Lord Scrope. Hunderte von Lords, Tausende von Soldaten. Es kam mir vor wie am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn die Toten aus der Erde kommen, sich aber nicht
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