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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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durchstreifte, auf der er, als sehr Junger, sein erstes Buch, fast immer im Freien, in der prallen Sonne, geschrieben hatte. Doch die eine oder andere Station, die eine oder andere Richtung sollte auch dem Zufall, dem, was sich unterwegs ergab und ihn vielleicht forderte, überlassen werden. Es würde kommen, wie es kommen würde. Es kam, wie es kam. »Wie es der Zufall wollte«, so wie man nicht nur bei ihm daheim sagte.
    Dabei hatte er vor, bald wieder zurück auf und in seiner MORAWISCHEN NACHT zu sein. Aber »bald«, was hieß das? Für die einen von uns hatte dann seine Abwesenheit beunruhigend lange gedauert. Für andere dagegen war zwischen seinem Aufbruch und seiner Rückkehr kaum ein Monat, ja nicht viel mehr als eine Woche vergangen. Mir zum Beispiel schien sogar, als habe beides, Abfahrt wie Wiederkehr, gestern stattgefunden. Mir andererseits kam vor, der Ex-Autor habe mich den ganzen Winter alleingelassen, und mir, dem Dritten: ein ganzes liebes Jahr. Und auch »gestern«, »Winter«, »Jahr«, »lange Zeit«, »kurze Zeit«, was hieß das? Dem Bootsmann oder Rundgereisten selber war es in jener Nacht, da er von seinem Fortgehen erzählte oder erzählen ließ, als sei er »gerade noch« mit seinem kleinen Koffer, nach dem eher nachlässigen Absperren des Bootshauses, auf der Gangway, auch diese dann »abgesperrt«, ans Morawa-Ufer balanciert, ja, als balanciere er da, jetzt, im Augenblick, weiter und weiter; als sei ihm »gerade noch« im Zug über den Semmering zufällig das Fastkind begegnet, das dort ein altes Buch las und ihn, obwohl er doch längst von niemandem mehr zu »erkennen« war, im Aufschauen von dem Buch sofort erkannte, und wie; als sei »gerade noch«, dort am Atlantik in den Armen einer Frau liegend, ihm in einer Schrecksekunde, ja, Schreck und Sekunde, klargeworden, wer seine unbekannte Feindin war, und was für ein Gesicht sie hatte.
    »In keiner Zeit« war er demnach an seinen Ausgangsort zurückgekehrt? »In keiner Zeit« von A nach B, von B nach C, undsoweiter gefahren, gegangen, gestolpert, geirrt? »In keiner Zeit« überhaupt unterwegs gewesen? Welche Zeit, welche Zeitform, welche Zeitart galt nach alldem für die Rundreise des Ex-Autors? Erst einmal: Keine »runde« Zeit, so wie die Reise selber in Wahrheit keine Reise war, und schon gar nicht »rund«. Was galt, das waren alle Zeiten miteinander, durcheinander, gegeneinander – parallele, gegenläufige, einander zuwiderlaufende, durchkreuzende. Und vordringlich, hauptsächlich, sämtliche Zeiten, Zeitformen und Zeitarten verbindend, vereinend und vergessen lassend, galten da und dort die Sekunden, und nicht allein die im Schreck, nicht allein die Schreck- und Schreckenssekunden. Sekunde und Schreck. Sekunde und Weh. Sekunde und Trauer. Sekunde und Freude. Sekunde und Grauen. Sekunde und Liebe. Sekunde und Geduld. Sekunde und Seinlassen. Sekunde und Erbarmen. Sekunde und Beherztheit. Sekunde und Einatmen. Sekunde und Ausatmen. Die Sekunden, sie waren, im Rückgriff auf das Unterwegsgewesensein ebenso wie im Erzählen davon, das entsprechende, das lebendige, das natürliche Zeitmaß. (Etwas anderes hätte gegolten bei einem Aufzählen und einem Berichtabstatten.) Nicht die Minuten, nicht die Stunden, und auch nicht, die schon gar nicht, die Zehntel- und Hundertstelsekunden: Einzig meine, deine, seine, unsere, eure, ihre Sekunden, die zitternden, knisternden, beängstigenden, beruhigenden Sekunden. Die Sekunden, die sowohl das Zweite, das Folgende bedeuteten als auch das Primäre, das Vorausgegangene; die das Vorausgegangene und das Folgende in sich vereinten. Gelobt und gefürchtet sei die Sekunde.
    Die erste Sekunde, sie ließ auf seiner Reise nicht schlecht auf sich warten. Lange blieb eine Stunde wie jede andere, war es ebenso ein Tag wie jeder andere, verging ein Augenblick wie jeder andere. Und das war ihm eine schöne Zeitlang auch recht so: Wenn schon keine Sekunden ihn durchzitterten und durchzuckten, so handelte es sich immerhin um Augenblicke, Augenblick um Augenblick im Gleichmaß, wie es eine Regel schien für den Anfang des Unterwegsseins. Die eine Tasse, die er eigens unabgewaschen auf dem Bootsküchentisch stehenließ. Die eine Landkarte, die er dann aus dem Gepäck wieder aussortierte, im Gedanken, er würde versuchen, sich in der betreffenden Gegend einfach so, ohne Anhaltspunkte, zurechtzufinden. Ebenso dann das eine Paar Schuhe, und das eine Buch (von zweien). Dann das Anblasen, wie an einem jeden sonstigen
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