Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Ja, ein Weh war in dieser Hinterhofmenge, ein großes Weh. Eingezwängt in sie wollte ihm, ja doch, das Herz zerreißen. Er würde augenblicks tot umfallen, mit der Stirn möglichst auf den Flaschenhals, der dort aus dem Schutt zackte. Und zugleich, ja, zugleich ging dieses Herz, dasselbe Herz, ihm auf, nahm Gestalt an, und blutete, wie es, so kam ihm vor, seit einer »ganzen Ewigkeit« nicht mehr geblutet hatte. Nicht eingezwängt in die Menge da fühlte er sich, sondern frei in ihr, frei durch sie, so frei, wie er. in allen den Jahren, ob allein oder mit uns Freunden, am manchmal doch weiten Fluß, auf dem von keinem Trubel je berührten Boot, nie gewesen war.
    Er, so abhängig, meinte er, von den weiten Horizonten, ihrer vermeintlich so bedürftig, entdeckte in dieser Menschenmasse die nahen, die übernahen, die engen Horizonte wieder. Es war in der Tat – in seiner Erzählung betonte er dann das Wort »Tat« – ein Wiederentdecken; ein Wiederfinden. Mit den nahen Horizonten hatte es bei ihm einst angefangen. Es mußte das nicht das Gesicht seiner Mutter sein, das ihm, so empfand er es nicht erst im nachhinein, oft gar zu nah gekommen war, ihm die Ausblicke eher verstellt hatte. Nähe, das waren zum Beispiel die sogenannten »Augen« in den Brettern der Zimmerböden zuhause, die Astquerschnitte in den Brettern, den breiten, von denen, sieh an, der Name »Schiff-« oder »Schifferboden« kam. Nähe, das war im Schuppen der Holzblock, der vielfach zerfranste, in dem tief die Hacke steckte, mit Flecken vom in den Block gesickerten Blut der geköpften Hühner; das war der Schwamm für das Osterfeuer, der, an einem Draht befestigt, aufglühte, wenn man ihn durch die Luft, nein, die Lüfte schwang, waren die Körner der Maiskolben, wie sie erschienen beim Entfernen der Hüllblätter, vor allem, wenn diese Körner, Seltenheit, sich einmal nicht gelb, sondern rot oder schwarz zeigten.
    Solche nahen Horizonte, mit der Eigenheit, daß sie weder als nah oder als weit erlebt wurden, sondern schlicht als Horizonte, als zu Sehendes, sich zu sehen Gebendes, als (etwas gar nicht so Selbstverständliches, zumindest für ihn) Gegenüber, sie waren seinerzeit gebildet gewesen fast nur von Sachen, von den Dingen. So sehr er auch sein Gedächtnis zuspitzte – lange, lange Pause in seinem Erzählen –, es erschien darin kein einziger naher Menschenhorizont, kein Mensch im ganzen und keiner als Teil. Höchstens waren da Tiere, und in der Regel gar kleine, eine erfrorene Biene, die man mit einem Hauchen wiederbeleben wollte, ein Weberknecht, tot im Staub eines Zimmerwinkels, und von größeren, und lebenden, vielleicht gerade die Wimpernlinie über dem Auge einer Kuh, die Kurve des Rückens eines Pferdes.
    Menschennähe, nahe Menschen, von seiner Mutter abgesehen, hatten ihm lange keine Horizonte bedeutet, vielmehr Bedrängnis. So war es bei den einzelnen, und bedrängter womöglich noch fühlte er sich von einer sich nähernden Mehrzahl – selbst in einem gewissen Abstand war ihm das ein Nahetreten, ein Auf-den-Leib-Rücken –, und vollends eingekreist, umzingelt, eingeschnürt wurde man – immer wieder unterlief ihm so ein »man« – in einer Menge. Die erste menschliche Horizontlinie war ihm dann das Geschlecht, das noch unbehaarte, eines Mädchens, vor allen späteren Augen-, Ohrmuschel- und Lippenhorizonten: Schauen, Anstaunen, Einbezogenwerden (ohne irgendein Berühren), Dazugehören, Weiterschauen. Hieß nicht das Horizont, ob naher oder ferner?
    Der ergab sich im Lauf der Zeit, dann und wann, freilich auch in der Menge, im Geschiebe und Gedränge, oft gerade da, und ein paarmal sogar in einem gewissen Eingezwängtsein. Das mußte nicht immer auf dem Fußballplatz sein, oder beim zehntausendfachen Wegdrängen von einem Rock- oder Sonstwie-Konzert. In einem überfüllten Zug konnten die Menschenhorizonte monumentalere Formen annehmen als irgendein Monument Valley; in der Enge eines Leichenkonvois für einen Unbekannten, wo man, ein erstes Mal unabsichtlich, bei den folgenden Malen immer absichtlicher, mit hineingeraten war, in einem Untergrundwaggon so enggeschichtet mit Passagierleibern, daß einzig der flachste Atem, der wie von Fischen bei ihren letzten Japsern in ihren Transportkisten, noch in Frage kam – eben da zeichnete sich vielleicht ein Horizont nach dem anderen ab, gab zuzeiten der eine Horizont – eine Halslinie in Handbreit vor den Augen, ein Haarscheitel, der in der Enge buchstäblich zu Berge stand – den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher