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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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Konzentration versorgt, und ebenso ein Fieberanfall, eine Verletzung, ein Schlag auf den Kopf, ein unter den Füßen weggezogener Boden. Tatsache, so oder so: daß dieses nachtlange Reden zuletzt auf eine Weise nachhaltig wirkte, daß nicht nur er, der es unternahm, sondern auch wir, seine Zuhörer, uns dabei näher an einem Handeln spürten denn je zuvor.
    Es gab freilich etwas, das ihn, von einer Sekunde zur nächsten, zum Abbruch des nachtlangen Sprechens gebracht hätte. Er brauchte sich dazu nicht zu erklären. Es war uns anderen auch so klar. Eines war es, ein einziges, das ihn auf der Stelle seine so weltbewegend erlebte Expedition hätte vergessen lassen. Und das ging uns, einem jeden an seinem Tisch, auf, als später in der Nacht einmal die fremde Frau sich im Türfenster der Bootsküche zeigte. Die Erzählung handelte da gerade auch von ihr, und sie war aus ihrem Küchenwinkel gekommen, wohl zum Zuhören. Und was ging uns auf? Daß er um dieses Menschen dort willen nicht bloß die eine Expedition jetzt, sondern auch jedes sonstige vermeintliche oder wirkliche Himmelsstürmen augenblicklich fahren ließe, sowie dieser Mensch in Not wäre, in äußerster; wenn er Rettung bräuchte. Dieser eine zu rettende Mensch dort: das hatte Vorrang vor der Expedition. Wobei wir zu jenem Zeitpunkt noch nicht wußten, höchstens erahnten, daß umgekehrt die junge Frau es war, die den Mann gerettet hatte, und nicht bloß »gleichsam«, und nicht bloß »sozusagen«.
    Auch wenn der ehemalige Autor es nicht deutlich zu verstehen gab: die Reise hatte als Flucht begonnen; zuallererst, und auch danach noch, da zwar weniger eindeutig, war sie eine Fluchtbewegung. Und diese Flucht – wie vermied er dabei doch dieses Wort! – war die vor einer Frau. Jene Frau, er kannte sie seinerzeit noch nicht in Person; wußte nicht einmal, wie sie aussah; wollte es auch gar nicht wissen. Was er wußte: daß die Frau seine Feindin war, seine Todfeindin. Das ließ umgekehrt sie ihn wissen, und davor gab es kein Taub- und kein Blindstellen. Hatte es zunächst noch vielleicht den Anschein gehabt, solche Feindschaft gelte dem Autor, seiner Autorschaft, wie auch immer, so wurde dann spürbar, daß die Frau, die Unbekannte, nicht bloß seine Art und Weise haßte, sondern darüber hinaus die Tatsache seines Existierens, seine Existenz. Nachdem er mit dem Schreiben aufgehört hatte, sprachen zunächst zwar ihre Briefe – die eingangs die einer, gleich schon, entschlossen feindseligen Leserin gewesen waren – von ihrer Genugtuung, sie habe mit dazu beigetragen, »Dich endlich zum Schweigen zu bringen«. Doch hörten in der Folge diese Briefe keineswegs auf, häuften sich sogar, täglich einer, täglich dann einige. Und wie das in einem solchen Fall die Regel zu sein schien: Auch nach dem Umzug des Ex-Autors in das andere, ganz andere Land, auf das Boot hier an den Ufern der Morawa, fand sie die Adresse bald, sehr bald, heraus, und … Vor gewissen Menschen schien kein Entkommen möglich. Sie hatten einen sechsten, nein, siebten oder neunten Sinn dafür, den aufzuspüren, auf den sie es abgesehen hatten. Und zeitlebens würde sie nicht von ihm ablassen – zeit ihres Lebens. Nicht ruhen würde sie und keine Ruhe geben, ehe er sich ihr nicht zum Kampf stellte, den er, auch würde er ihn gewinnen, nur verlieren konnte.
    Wir anderen fragten uns, wie solch ein Haß zu erklären sei. Auch er hatte keine Erklärung. Aber er wollte auch keine. Er brauchte keine; die Frage stellte sich ihm kein einziges Mal. Es war ihm schon in der Kindheit klar geworden, daß er Haß auf sich zog, grundlosen. Und er war seit jeher damit einverstanden gewesen. Es mußte so sein. Je grundloser, desto selbstverständlicher – was nicht hieß, daß er den Haß wehrlos über sich ergehen ließ. Sein ganzes bisheriges Leben, ob als der und der oder irgendwer, war, einmal mehr, einmal weniger, begleitet worden von unerklärlichen Hassern. Männern genauso wie Frauen, die eines Tages entweder, so oder so, verschwanden, oder ihre Energie verloren, oder, auch das kam vor, sogar Abbitte leisteten.
    Er war die Hasser gewohnt. Die letzte in deren Reihe dagegen wunderte mit der Zeit selbst ihn. Eine derartige Ausdauer und dazu, von Mal zu Mal, Steigerung in den Haßaktionen wie bei der fraglichen Frau war ihm noch nicht untergekommen. Das begann ihn dann doch zu treffen, oder ihm zuzusetzen, zumal in den letzten Jahren sämtliche sonstigen Feinde still geworden waren, sei es, weil er so
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