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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten
Autoren: Unbekannter Autor
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aus der Ruhe bringen. »Mit wem sind Sie denn verabredet?« fragte der Wachmann. »Mit Mr. Crane.«
    Der Wachmann verzog das Gesicht. Man sah geradezu, wie er angestrengt nachdachte. Schließlich wandte er sich an seinen Vorgesetzten. »Der Bursche hier sagt, er hätte eine Verabredung mit Mr. Crane«, erlä uterte er.
    Der zweite Wachmann musterte Judd. »Können Sie sich ausweisen, Sir?« fragte er höflich.
    Judd knöpfte seine Jacke auf und zog seine Briefta sche hervor. Der kastanienbraune Sweater mit dem weißen Hemd darunter sah im matten Licht der Halle beinahe schwarz aus. »Genügt Ihnen der Führerschein?«
    »Natürlich.« Der zweite Wachmann klappte das Dokument auf, las den Namen und warf Judd einen erschrockenen Blick zu.
    »Bitte entschuldigen Sie, Mr. Crane«, stotterte er, als er den Ausweis zurückgab. »Wir müssen vorsichtig sein. In den letzten Wochen hat es ein paarmal Probleme gegeben mit Leuten, die sich unberechtigt in der Halle rumtrieben.« »Ich verstehe«, nickte Judd und steckte seine Brieftasche wieder ein.
    Der Wachmann holte mit seinem Schlüssel den Expreßaufzug herbei. »Sie müssen in den fünfundvierzigsten Stock, Mr. Crane«, sagte er, als die Türen aufgingen. Judd betrat die Aufzugskabine und drückte auf den entsprechenden Knopf. »Du Idiot!« vernahm er, als die Türen sich schlössen. »Das war der Sohn vom Chef! Kapierst du?« Judd lächelte, als die Stimme im Rauschen des Luftzugs unterging, den der Expreßaufzug auslöste. Er lehnte sich an die Wand und sah zu, wie auf der Anzeigetafel ein Lämpchen nach dem anderen aufleuchtete. Als er den Aufzug verließ, war es fünf Minuten vor zwölf.
    Eine Empfangsdame saß an der Tür. »Guten Tag, Mr. Crane. Ihr Vater erwartet Sie schon.« Sie öffnete die Tür zu einem weiteren Aufzug, der zum Penthouse-Büro seines Vaters hinaufführte.
    Die Sekretärin seines Vaters begrüßte ihn lächelnd. »Guten Tag, Judd.«
    »Guten Tag, Miß Barrett.« Er bückte sich ein wenig, um sie auf die Wange zu küssen. »Sie sind hübscher und jünger denn je!«
    Sie lachte. »Wie lieb von Ihnen«, sagte sie freundlich. »Aber mir brauchen Sie wirklich keine von Ihren Harvard-Schmeicheleien zu sagen. Ich habe Sie schon gekannt, als Sie noch auf allen vieren herumkrabbelten.«
    Aber ich bitte Sie«, lachte er. »Das sind keine Schmeicheleien, das ist meine ehrliche Überzeugung.« Sie gingen durch das Vorzimmer, in dem mehrere Stenotypistinnen saßen, in Miß Barretts Büro. »Wie geht es meinem Vater?« fragte Judd. »Ich habe ihn seit mindestens sechs Monaten nicht mehr gesehen.«
    »Ach«, erwiderte sie leichthin, »Sie kennen ihn ja. Bei ihm scheint immer alles in Ordnung zu sein.« Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Wie meinen Sie das? Stimmt etwas nicht?«
    Miß Barrett gab keine Antwort. Statt dessen stieß sie die Tür zum Büro ihres Chefs auf. Als Judd zu seinem Vater hineinging glaubte er Tränen in ihren Augen zu sehen. Aber da schloß sie auch schon die Tür hinter ihm.
    Sein Vater drehte ihm den Rücken zu und starrte zum Fenster hinaus. »Bist du das, Judd?«
    fragte er. »Ja, Vater.«
    »Komm her.« Noch immer drehte der alte Mann sich nicht um.
    Judd stellte sich neben seinen Vater und blickte über die Dächer der Stadt. Noch immer hatten Vater und Sohn sich nicht in die Augen gesehen.
    »Es ist sehr klar heute. Man kann die Battery sehen und Staten Island, den Long Island Sound und dahinter Connecticut.«
    »Ja«, sagte Judd. »Es ist wirklich sehr klar.« Sein Vater zögerte einen Augenblick, dann drehte er sich zu Judd um und streckte ihm die Hand hin. »Du siehst gut aus, mein Junge.«
    Judd nahm die Hand seines Vaters. »Nun«, sagte er fröhlich, »bin ich schon so alt, daß ich dir keinen Kuß mehr geben darf, Daddy?«
    Sein Vater umarmte ihn mit einer heftigen Bewegung und küßte ihn auf die Wange. »Ich hoffe, dazu bist du niemals zu alt, Junge.«
    »Na also«, lächelte Judd. »Ich dachte schon, du magst mich nicht mehr.«
    »Sei nicht albern. Ich liebe dich, mein Junge, das weißt du genau.«
    »Ich dich auch, Vater.«
    Sein Vater ging zu seinem Schreibtisch. »Erst dachte ich, wir könnten irgendwo zum Essen gehen, aber dann habe ich mir überlegt, daß es vielleicht gemütlicher ist, wenn wir hier im Büro was zu uns nehmen.
    Wir haben schon so lange nicht mehr in Ruhe miteinander geredet.« »Eine gute Idee.« »Hast du Hunger?«
    Judd lächelte. »Hunger habe ich immer.« Sein Vater drückte einen Knopf
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