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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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geholfen, so lange unentdeckt zu bleiben; es hörte mit großer Empfindlichkeit, ob sich ein menschliches Wesen auch nur in Sichtweite befand, und kam vermutlich nur in den dunkelsten und nebligsten Nächten an die Oberfläche, um seine großen Lungen zu füllen.
     
Letzter Gedanke
    Und dieses Bild stand plötzlich vor meinem inneren Auge, als ich den Artikel über Flimmy gelesen habe. Ich saß in meinem rosa Mädchenzimmer in Averell Cottage im Dämmerlicht, meine Taschen waren gepackt, mein Geist hatte einen großen, hellvioletten Schutzring um sich gezogen, und ich sah ganz deutlich das Ungeheuer vor mir, in einem kalten Lagerhaus aus Zement, aufgeschnitten wie ein Stück Obst. Ich sah Kräne, die mit ihren Greifarmen in dem toten Fleisch wühlten, sah Menschen, die auf Gerüsten um den Kadaver herumkrabbelten wie die Liliputaner auf dem armen schiffbrüchigen Gulliver, sah den zurückgebogenen Kopf des Ungeheuers mit dem offen stehenden Mund und den drei Reihen glänzender schwarzer Zähne, die es gen Decke bleckte. Ich sah seine Innereien, herausgenommen und untersucht und abgelichtet, und die milchweiße Haut, die an den Wundrändern schwarz wurde.
    Es war eine so grauenhafte Vorstellung, die in so grässlichem Kontrast zu dem Bild stand, das ich mir von dem Ungeheuer gemacht hatte – jenem seidig-weißen Wesen, das in den schwarzen Tiefen des Flimmerspiegelsees schwamm, glücklich seine Glieder im Wasser bewegte, mit staunenden, freudigen Blicken die Unterwasserwelt beäugte, abund zu mit seinen Händen nach einem Fisch griff –, dass ich die Zeitschrift hinlegte und nichts dagegen tun konnte, dass mir die Augen übergingen.
     
     
     
    1 Könnten wissenschaftliche Titel nicht vereinfachender sein? Umgekehrt könnte man
Anna Karenina
auch umbenennen in:
Geschichte einer Frau, die ihre Familie wegen eines anderen Mannes verlässt, große Schuldgefühle und Eifersucht entwickelt und sich schließlich vor einen Zug wirft; einschließlich der tragischen Geschichte von Levin, einem Mann, der Gott sucht und am Ende auch findet.
Die Wissenschaft braucht einfach einen guten Schuss Kunst.
    2 Das ist so herrlich verrückt; man stelle sich vor, wie, Jahrmillionen nachdem der erste Fisch keuchend an Land kroch, ein übermütiger Paarhufer sich das Wasser anschaute und beschloss, es sei eine gute Idee, wieder dorthin zurückzukehren. Offensichtlich ist genau das geschehen. Statt sich Wale als mythische, kluge, alienartige Tiere vorzustellen, wie sie in unzähligen esoterischen New-Age-Storys weltweit poetisiert wurden, sollten wir sie einfach als große, blubbernde Ziegen sehen. In manchen Dingen war man in der Antike klüger als wir: Proteus, die Figur aus der griechischen Mythologie, war offenbar der Hüter von Poseidons Delfinen. In anderen Worten, er war ein Unterwasserschäfer für Unterwasserschafe.
    3 Hermaphrodit: ein Organismus, der sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale besitzt. Ein synchroner Hermaphrodit hat sogar beide Geschlechtsorgane auf einmal. Es gibt auch die Zwittrigkeit, bei der sich das gonadische Geschlecht im Laufe eines Lebens ändert (Teiresias aus der griechischen Mythologie war z.B. ein solcher Zwitter, weil die Götter ihn innerhalb eines Lebens zunächst vom Mann zur Frau machten und dann umgekehrt). Menschen können gonadale Hermaphroditen sein, was man auch als intersexuell bezeichnet, doch die jeweiligen Geschlechtsorgane sind nur in den seltensten Fällen funktionstüchtig. Das Wort geht auf den Sohn des Hermes und der Aphrodite zurück, von dem es heißt, er sei in eine Nymphe verwandelt worden, woraus ein Gott mit beiden Geschlechtern entstand.

Bei der Abreise
    An dem Tag, als ich Templeton verließ, lud ich meinen Vater zum Mittagessen ein. Damals wusste er noch nicht, dass er mein Vater war, und hatte auch leicht überrascht geklungen, als ich ihn am Tag zuvor angerufen und eingeladen hatte. Ich wartete in der dunklen, kühlen Höhle des Cartwright Café auf ihn, nippte an meinem Eistee und versuchte verzweifelt, gegen die tiefe Röte anzukämpfen, die mir immer wieder in die Wangen stieg.
    Als Sol Falconer kam, war er eindeutig wie für ein Rendezvous gekleidet, in einem sehr teuren Hemd und einer schicken Hose, als wäre es ganz normal, dass ein Mädchen, das halb so alt war wie er, ein Auge auf ihn geworfen haben könnte, und das Mindeste, was er tun könne, sei, sich für sie in Schale zu werfen. Offensichtlich war ich nicht die Erste. Ich stand auf und
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