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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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Bäume warfen ein mittägliches Zwielicht auf mich. Dann jedoch öffnete sich vor mir in der Dunkelheit eine Kluft, ein Hang, der über dreißig Meter hinab zu den Baumwipfeln abfiel, und an dieser Stelle trat ich ins Licht hinaus … Kein Lüftchen regte sich in dieser verlassenen Wildnis von New York, und es war ganz still
.
Plötzlich sah ich, wie am Rande des Sees geisterhaft Gebäude aufstiegen, eine richtige Stadt mit Kirchtürmen und Dächern, gespensterhaftes Menschengetümmel in den Straßen, Rauch. Ich sank zwischen den unbekannten Farnen auf die Knie.»
    Die Worte des fraglichen Mannes, Marmaduke Temple, beschrieben jenen Moment der Erleuchtung, als er zum ersten Mal die Stelle erblickt hatte, an der er Templeton errichten würde. Und nun war ausgerechnet dieser große, besonnene, heldenhafte, vernunftbetonte Mann als gemeiner Sklavenhalter und Ehebrecher entlarvt worden, der sich an seinen unbezahlten Untergebenen schadlos hielt. Was für eine Lachnummer!
    Eine Sekunde lang betrachtete Vi das gestrenge Porträt Marmadukes über dem Kaminsims. «Jetzt, wo ich das von dir weiß, alter Knabe, mag ich dich lieber», sagte sie und lachte. Etwas an ihrem Lachen, das in dem ungeheizten Haus wider- und widerhallte, brachte sie erst recht in Stimmung, sie musste nach Luft schnappen, die Rippen taten ihr weh, und sie machte sich ein kleines bisschen in die Hose. Plötzlich jedoch hielt sie inne, weil sie felsenfest davon überzeugt war, dass der Mann auf dem Bildnis gerade einen Moment lang das Gesicht zu einem Grinsen verzogen und gezwinkert hatte. Eine winzige verschwörerische Grimasse.
    Vivienne schaute verblüfft auf das Porträt und überlegte. Sie hatte durchaus schon seltsamere Dinge gesehen, obwohl diese Visionen stets durch irgendwelche stimmungserhellenden Substanzen hervorgerufen wurden. Doch selbst als Kind hatte sie oft einen Geist gesehen, der in Averell Cottage sein Unwesen trieb. In Vis Augen hatte erdie Gestalt einer riesigen, flatternden Taube, die überall im Haus ihre großen, nur halbwegs sichtbaren Federn verstreut hatte. Ein blinzelndes Ölgemälde lag folglich nicht völlig außerhalb des Reichs der Möglichkeiten. Sie schenkte dem Porträt ein kleines Grinsen und blinzelte zurück. Dann wurde ihr übel, und sie lief ins Badezimmer, um ihr Frühstück aus Dosenananas von sich zu geben – dem einzigen Lebensmittel außer Büchsenfleisch oder Wackelpeter, das sie in den Küchenschränken hatte auftreiben können. In letzter Zeit war ihr morgens immer so schlecht. Ihr Nabel war ein wenig angeschwollen. Und letzten Monat hatte sie ihre Periode nicht bekommen.
    Anscheinend war Vivienne schwanger.
    Die Geschichte meiner Zeugung erfuhr ich, lange bevor ich sprechen lernte. Vis Augen leuchteten immer vor Freude und Wehmut auf, wenn sie beschrieb, wie sie damals in San Francisco gelebt hatte, in einer Kommune, also etwas, das sie gerne als «Experiment in Sachen freie Liebe» bezeichnete, obwohl das in meinen Ohren immer klang wie gemietete Liebe, noch dazu billig gemietete. Da es in dieser Kommune zwar vier Männer, aber nur drei Frauen gegeben hatte, war Vi nie allein ins Bett gegangen; und da dort außerdem auch immer irgendwelche Yogis und Maler und Sitarspieler und Hersteller von organischem Joghurt übernachteten, war natürlich jeder herzlich dazu eingeladen, an den Liebesfesten teilzunehmen.
    Sie sei erst siebzehn gewesen, sagte sie dann immer seufzend. Was wusste sie schon von Verhütung? Den ganzen Monat lang war Vi jeden Morgen mit dem Geschmack von Erbrochenem im Mund aufgewacht, das ihr bereits die Kehle hochstieg, sie fühlte sich lethargisch und schwer und krank. Und noch bevor man dem Versuchskaninchen ihren Urin spritzte und ihm beim Sterben zuschaute, wusste Vivienne Bescheid.
    Am Tage ihres Schwangerschaftstests saß Vi in ihrem Flügelhemdchen aus Papier im Krankenhaus und hatte kalte Füße. Die Krankenschwester,die auf der Highschool drei Klassen über ihr gewesen war, wurde rot. «Tut mir leid», sagte sie. «Sie sind schwanger, Miss Upton», und konnte Vivienne dabei nicht in die Augen schauen.
    Mein Auftritt: Wilhelmina Sunshine Upton, die den Flippie-Hippie-Namen «Sunshine» tragen würde, bis sie zwei Jahre alt und dickköpfig genug war, einfach nicht zu reagieren, wenn man sie damit ansprach.
    In dem Moment, als jene weichherzige kleine Krankenschwester Vi eröffnete, sie sei schwanger, wusste sie, dass sie in Templeton bleiben musste. Irgendwo in dem weiten
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