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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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die fremde Umwelt kühl. Er tat die Frage ziemlich gleichgültig ab.
    «Wir sind auf irgendeinem Planeten, wie es scheint. Er hat einen grünen Himmel und eine doppelte Sonne.»
    Jonathan stieß vor Entzücken einen hellen Schrei aus, den ersten Laut, seit er die Erde verlassen hatte. «Es ist gelungen!»
    «Natürlich ist es gelungen, Jon» sagte Chiang. «Es gelingt immer, wenn du genau weißt was du willst. Und nun zu der Selbststeuerung...» Als sie zurückkamen, war es schon dunkel. Die anderen Möwen betrachteten Jonathan, und in ihren goldenen Augen stand ehrfürchtige Scheu. Sie hatten gesehen, wie er urplötzlich von der Stelle, auf der er lange Zeit wie angewurzelt verharrt hatte, verschwunden war. Er ließ sich aber nicht lange bewundern. «Ich bin hier noch ein Neuling. Ich fange ja erst an. Ich bin es, der von euch lernen muß.»
    «Ich bin aber doch überrascht» sagte Sullivan, der unweit von ihm stand. «In all den zehntausend Jahren hab ich keine Möwe gesehen, die so furchtlos alles Neue erlernen will wie du.» Die anderen Möwen nickten dazu. Jonathan trippelte vor Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen.
    «Wenn du willst, werden wir uns als nächstes mit der Zeit beschäftigen» sagte Chiang. «Du wirst lernen, durch Vergangenheit und Zukunft zu fliegen. Wenn dir das möglich ist dann erst kannst du das Allerschwerste, das Großartigste, das Schönste beginnen. Dann erst kannst du dich dazu aufschwingen, das wahre Wesen von Güte und Liebe zu begreifen.»
    Ein Monat verging, oder vielmehr ein Zeitraum, der sich wie ein Monat ausnahm.
    Jonathan lernte außerordentlich schnell. Er hatte schon sehr rasch Fortschritte gemacht, als er noch aus der praktischen Erfahrung lernte, nun aber, als Einzelschüler des Ältesten selbst verarbeitete er die neuen Ideen wie ein stromlinienförmiger, gefiederter Computer. Doch dann kam ein Tag, an dem Chiang endgültig verschwand. Zuvor hatte er noch einmal lautlos die ganze Gemeinschaft ermahnt, niemals das Lernen aufzugeben, unentwegt weiter zu üben und danach zu streben, das vollkommene, unsichtbare Prinzip alles Lebens zu erfahren.
    Dabei wurde sein Gefieder lichter und lichter, und zuletzt erstrahlte es in solchem Glanz, daß die Möwen geblendet die Augen abwenden mußten.
    «Jonathan, erlerne die Liebe.» Das waren seine letzten Worte.
    Als die Blendung der Augen nachließ, weilte Chiang nicht mehr unter ihnen.
    Und die Zeit verrann. Immer häufiger mußte Jonathan jetzt an die Erde zurückdenken, von der er einst gekommen war. Hätte er dort unten nur ein Zehntel, nur ein Hundertstel von dem gekannt, was er jetzt wußte, wieviel sinnvoller wäre sein Leben gewesen. Er stand im Sand und fragte sich, ob es dort unten vielleicht wieder eine Möwe gäbe, die ihre Grenzen zu überwinden trachtete, eine Möwe, der das Fliegen mehr bedeutete als nur Fortbewegung zu dem Ziel, ein paar Brocken Brot von einem Fischkutter zu ergattern. Vielleicht war wieder eine Möwe in Verbannung geschickt worden, weil sie gewagt hatte, dem großen Schwarm die Wahrheit zu sagen. Und je länger Jonathan sich um Güte bemühte, je mehr er danach strebte, das Wesen der Liebe zu begreifen, desto größer wurde sein Verlangen, zur Erde zurückzukehren. Trotz der Vereinsamung in seinem vergangenen Erdendasein war Jonathan im Grunde der geborene Lehrer. So gab es für ihn nur eine einzige Möglichkeit, der Liebe zu dienen: Er mußte die von ihm erkannte Wahrheit weitergeben an eine Möwe, die auch die Sehnsucht nach Wahrheit in sich trug.
    Sein Lehrer Sullivan war bereits Meister im gedankenschnellen Flug und half den anderen bei ihren Übungen. Er hatte seine Zweifel. «Du bist früher auf der Erde ein Ausgestoßener gewesen, Jon. Wie kannst du glauben, daß dir jetzt auch nur eine Möwe aus deiner Vergangenheit zuhören würde? Du kennst doch das Sprichwort: Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt. Darin steckt Weisheit. Die Möwen, von denen du abstammst, kleben am Boden und zetern und streiten miteinander. Unendlich weit sind sie vom Himmel entfernt - und da glaubst du, du kannst ihnen von ihrem Standort aus den Himmel öffnen? Sie können doch nicht über ihre eigenen Flügelspitzen hinausblicken. Bleib bei uns, Jon. Hilf den Anfängern hier Sie sind schon weiter, sie können erkennen, was du ihnen zeigen willst.»
    Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: «Wenn Chiang in seine früheren Welten zurückgekehrt wäre, wo wärst du jetzt?»
    Diese Bemerkung gab den
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