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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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Muß man hier auch schlafen?
    Schlafen? Wo hatte er das Wort gehört? Die Erinnerung an sein Erdendasein verflüchtigte sich. Gewiß war die Erde ein Platz gewesen, wo er manches gelernt hatte, aber die Einzelheiten verschwammen. Futter suchen oder so ähnlich und - ja - Verbannung. Die Möwen vor der Küste flogen ihm zur Begrüßung entgegen, doch gaben sie keinen Schrei, keinen Laut ab. Trotzdem fühlte er, daß er willkommen war und daheim. Es war ein großer Tag für ihn, aber an den Sonnenaufgang dieses Tages erinnerte er sich nicht mehr.
    Er kreiste tiefer, flatterte nah über dem Boden fast auf der Stelle, dann setzte er leicht auf dem Sand auf. Die anderen Möwen aber landeten schwebend, keine bewegte auch nur eine Feder. Die schimmernden Flügel weit ausgespannt drehten sie in den Wind, dann änderten sie, Gott weiß wie. die Stellung der Schwungfedern und kamen im Augenblick zum Stillstand, da sie mit den Füßen den Boden berührten. Die vollkommene Körperbeherrschung war herrlich. Doch Jonathan war zu müde, es auch so zu versuchen. Da, wo er aufgesetzt hatte, war er im Stehen eingeschlafen.
    Dann folgte ein Tag dem anderen. Auch hier übte Jonathan unablässig neue Flugtechniken wie in dem Leben, das hinter ihm lag. Nur eines war anders. Die Möwen hier fühlten wie er. Jede einzelne erstrebte die höchste Vollkommenheit auf dem Gebiet, das allen das wichtigste war: dem Fliegen. Es waren großartige Vögel, alle. Täglich verbrachten sie viele Stunden damit, ihre Flugtechnik zu üben und sich im Kunstflug zu erproben.
    Jonathan vergaß alles Frühere. Versunken war die Welt, aus der er gekommen war, vergessen der Schwarm, der die Augen gegen die Herrlichkeit des Fliegens verschlossen hatte und die Flügel einzig als Mittel zum Zweck beim Futtersuchen und Raufen um die Nahrung gebrauchte. Doch ab und an blitzte sekundenlang die Erinnerung auf, und dann kamen die Fragen. So geschah es an einem Morgen, als sein Lehrer und er nach einer Serie von Loopings mit anliegenden Flügeln auf dem Wasser ausruhten.
    «Wo sind sie denn alle, Sullivan?» dachte er. Er war jetzt mit der mühelosen Gedankenübertragung vertraut, die hier das Kreischen und Krächzen der Möwen auf der Erde ersetzte. «Wieso sind nicht mehr von uns hier? Es gab doch Tausende und Abertausende von Möwen - ich weiß.»
    Sullivan schüttelte den Kopf. «Ich kenne nur eine Antwort, Jonathan. Du bist wahrscheinlich einer unter Millionen, die große Ausnahme. Die meisten von uns sind nur ganz allmählich weitergekommen, von einer Welt in die nächste, die dann anders war Wir vergaßen sofort, woher wir gekommen waren, und es kümmerte uns nicht, wohin wir gingen. Wir lebten nur für den Augenblick. Es ist kaum vorstellbar, durch wie viele Leben wir hindurch mußten, bis wir verstanden, daß Leben mehr ist als Fressen und Kämpfen und eine Vormachtstellung im Schwarm einnehmen. Tausend Leben, zehntausend, und danach vielleicht noch hundert Leben, ehe uns die Erkenntnis aufdämmerte, daß es so etwas gibt wie Vollkommenheit, und dann nochmals hundert Leben, um endlich als Sinn des Lebens die Suche nach der Vollkommenheit zu sehen und zu verkündigen. Diese Regel gilt auch jetzt. Wir erlangen die nächste Welt nach dem, was wir in dieser gelernt haben. Lernen wir nichts hinzu, so wird unsere nächste Welt nicht anders sein als diese, sie bietet die gleichen Beschränkungen, und es gilt, die gleiche bleischwere Last zu überwinden.»
    Er breitete die Schwingen aus und wendete den Kopf in den Wind. «Du aber, Jon» sagte er, «hast so viel auf einmal gelernt, daß du nicht durch viele tausend Leben mußtest, um hierher zu gelangen. »
    Und wieder schwangen sie sich in die Lüfte und setzten ihre Übungen fort. Beim Fliegen in der Formation waren die Drehungen um die eigene Achse besonders schwierig, da die Hälfte der Flugfigur Rückenlage erforderte. Jonathan mußte dabei umdenken, mußte die Flügel zurückstoßen und die Flügelhaltung genau auf die seines Mentors abstimmen. Immer wieder sagte Sullivan; «Versuchen wir es noch einmal, versuchen wir es noch einmal.» Und endlich sagte er: «Gut.» Und sie begannen eine neue Figur zu üben.
    Hatten die Möwen keine Nachtflüge, so hockten sie beisammen und meditierten. An einem Abend faßte Jonathan sich ein Herz und näherte sich dem Ältesten, der sich, wie es hieß, bald über diese Welt hinaus erheben würde.
    «Chiang..» begann er ein wenig unsicher.
    Der Uralte sah ihn gütig an. «Ja, mein
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