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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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Sohn?» Das Alter hatte ihn nicht geschwächt, sondern gestärkt. Er konnte jede andere Möwe im Flug überholen und kannte Techniken, die die anderen erst ganz allmählich erlernten.
    «Diese Welt ist gar nicht das himmlische Paradies, nicht wahr, Chiang?»
    Im Mondlicht sah er daß der Älteste ihm freundlich zunickte. «Du hast wieder etwas dazugelernt, Jonathan» sagte er.
    «Und was geschieht nachher? Wohin kommen wir dann? Gibt es gar kein Paradies?»
    «Nein, Jonathan, einen solchen Ort gibt es nicht. Das himmlische Paradies ist kein Ort und ist keine Zeit. Paradies, das ist Vollkommenheit.» Er schwieg einen Augenblick. «Du bist ein sehr rascher Flieger, nicht wahr?»
    «Ich... ich liebe die Geschwindigkeit! sagte Jonathan betroffen, aber doch stolz, daß es dem Ältesten aufgefallen war.
    «Du wirst zum ersten Mal den Rand des Paradieses streifen, wenn du die vollkommene Geschwindigkeit erreicht hast. Und das bedeutet nicht, daß du in der Stunde tausend oder hunderttausend Kilometer zurücklegen kannst. Selbst wenn du mit der Geschwindigkeit des Lichtes fliegen würdest, hättest du nicht die Vollkommenheit erreicht. Alle Ziffern sind Begrenzungen, Vollkommenheit aber ist grenzenlos. Vollkommene Geschwindigkeit mein Sohn, das heißt ganz dasein.»
    Dann war Chiang plötzlich ohne ein weiteres Wort verschwunden und tauchte im gleichen Augenblick weit entfernt an der Küste auf, verschwand sofort wieder und stand neben Jonathan. «Das macht Spaß», sagte er.
    Jonathan war völlig verblüfft. Er vergaß alle weiteren Fragen nach dem Paradies. «Wie machst du das? Was empfindet man
    dabei? Wie weit kannst du dich entfernen?»
    «Man kann überall hinkommen, man muß es nur wirklich wollen. Ich bin überall gewesen und in allen Zeiten, die ich mir vorstellen kann.» Sinnend blickte der Älteste über das Meer. «Seltsam. Möwen, die um ihrer begrenzten Wege und Ziele willen die Vollkommenheit des Fliegens verachten, kommen nur langsam vorwärts und nirgendwo an. Die aber um der Vollkommenheit willen des Weges nicht achten, kommen in Sekundenschnelle überall hin. Bedenke immer, Jonathan. das himmlische Paradies findet sich nicht in Raum oder Zeit, denn Raum und Zeit sind bedeutungslos. Das Paradies ist...»
    «Kannst du mich lehren, auch so zu fliegen?» Jonathan bebte vor Sehnsucht nach dem Unbekannten.
    «Gewiß, wenn du es lernen möchtest.»
    «So gern. Wann können wir anfangen?»
    «Wenn du willst, sofort.»
    «Ich möchte so fliegen lernen», sagte Jonathan; und seine Augen strahlten vor Eifer «Sag mir, was ich tun soll,»
    Chiang setzte seine Worte bedächtig und sah die jüngere Möwe dabei unentwegt prüfend an. «Um in Gedankenschnelle zu fliegen, ganz gleich an welchen Ort mußt du schon vor Beginn wissen, daß du bereits dort angekommen bist.»
    Nach Chiangs Worten mußte man also als erstes aufhören, sich selbst als Gefangenen eines irdisch begrenzten Körpers zu empfinden. dessen Flügelspannweite etwa einen Meter betrug und dessen Leistungsfähigkeit sich mit Hilfe graphischer Darstellung berechnen ließ. Die Voraussetzung für das Gelingen lag in dem Bewußtsein, daß das wahre Sein so vollkommen ist wie eine nicht aufgeschriebene, wie eine abstrakte Zahl und überall zugleich existiert unabhängig von Zeit und Raum.
    Von Morgengrauen an, noch vor Sonnenaufgang und lange bis nach Mitternacht überließ Jonathan sich mit Leidenschaft seinen Versuchen. Aber alle seine Anstrengungen halfen ihm nicht weiter.
    «Vergiß alles Wissen», sagte ihm Chiang wieder und wieder. «Du hast es nicht gebraucht, um zu fliegen, du hast einfach fliegen müssen. Und jetzt ist es das gleiche. Versuche es noch einmal... »
    Und eines Tages war es soweit. Jonathan ruhte auf dem Strand aus. Mit geschlossenen Augen versenkte er sich ganz in sich, und in jähem Begreifen fühlte er, was Chiang gemeint hatte. «Natürlich. So ist es. Ich bin. Ich bin eine vollkommene, durch nichts beschränkte Möwe!»
    Glück durchströmte ihn wie ein heftiger Schreck.
    «Gut» sagte Chiang. Seine Stimme klang triumphierend. Jonathan machte die Augen auf. Er stand ganz allein neben dem Ältesten an einer gänzlich fremd anmutenden Küste - Bäume wuchsen bis an den Saum des Ozeans hinab, und zu Häuptern kreiste ein Zwillingsgestirn gelber Sonnen.
    «So hast du es endlich erreicht», sagte Chiang, «aber du mußt noch weiter daran arbeiten, dich selbst zu steuern...»
    Jonathan war überwältigt. «Wo sind wir?»
    Den Ältesten ließ
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