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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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für seinen Schwarm erhofft hatte, ihm allein wurde es zuteil; er lernte, was wahrhaft Fliegen heißt, und er bereute nie den Preis, den er dafür bezahlt hatte. Die Möwe Jonathan entdeckte, daß nur Langeweile, Angst und Zorn das Leben der Möwen verkürzen; nachdem diese drei von ihm gewichen waren, lebte er ein langes und ein wahrhaft lebenswertes Leben.
    Und eines abends geschah es: Zwei Möwen kamen, und sie fanden Jonathan friedvoll und einsam unter seinem geliebten Himmel schwebend. Sie tauchten neben seinen Schwingen auf, sie schimmerten in reinstem Weiß und erhellten mit sanftem, sternenhaftem Leuchten die Nacht. Das Schönste aber war ihr meisterhafter Flug.
    Ihre Schwingen bewegten sich in vollkommenem Gleichmaß, und die Flügelspitzen hielten sich in geringem Abstand neben den seinen. Wortlos unterwarf Jonathan sie seiner Prüfung, die noch nie eine Möwe bestanden hatte. Er drehte die Flügel und verlangsamte seinen Flug fast bis zum Stillstand. Die beiden strahlenden Vögel taten das gleiche mühelos, ohne die Lage zu verändern. Sie wußten um den langsamen Flug.
    Er legte die Flügel ein, kippte vornüber und ließ sich in einen rasenden Sturzflug fallen. Sie stürzten mit ihm, schossen in geschlossener Formation senkrecht hinab.
    Schließlich zog er bei gleichbleibender Geschwindigkeit kerzengrade hoch in eine endlose, vertikale Spirale, und sie folgten wie schwerelos. Er fing sich zu horizontalem Flug ab und schwieg lange. Dann fragte er: «Wer seid ihr?»
    «Wir sind von deiner Art, Jonathan. Wir sind deine Brüder» Stark und ruhig tönten die Worte. «Wir sind gekommen, um dich höher hinauf zu geleiten, wir holen dich heim.»
    «Ich bin nirgends daheim. Ich gehöre zu keinem Schwarm. Ich bin ein Ausgestoßener. Und wir fliegen jetzt schon sehr hoch, wir fliegen auf dem Gipfel des Großen Bergwindes. Viel höher kann ich diesen alten Leib nicht mehr erheben.»
    «Doch, du kannst es, Jonathan. Du hast viel gelernt. Die eine Lehrzeit ist zu Ende, die Zeit ist gekommen, um in einer anderen neu zu beginnen.»
    Das Licht, das ihm sein Leben lang geleuchtet hatte, das Licht des Verstehens, erhellte auch diesen Augenblick. Die Möwe Jonathan verstand. Sie hatten recht. Er konnte höher fliegen, es war Zeit, heimzugehen.
    Mit einem letzten, langen Blick nahm er Abschied von seinem Himmel, von diesem majestätischen silbernen Reich, das ihn soviel gelehrt hatte
    «Ich bin bereit», sagte er dann.
    Und die Möwe Jonathan erhob sich mit den beiden sternenhellen Möwen und entschwand in vollkommene Dunkelheit.

 
Zweiter Teil
     
    Das also ist das himmlische Paradies, dachte er amüsiert. Seine Empfindungen waren nicht besonders ehrerbietig, wo er doch anscheinend gerade in den Himmel kam. Während er in enger Flugformation mit den zwei strahlenden Möwen über die Wolken aufstieg, begann auch sein Gefieder so hell zu strahlen wie das ihre. Immer hatte hinter den goldenen Augen unwandelbar jung die Möwe Jonathan existiert, und sie lebte weiter, nur die äußere Form verwandelte sich.
    Es schien der vertraute Körper zu sein, doch Jonathan flog besser und leichter als je zuvor Ich werde mit halber Kraft zweifache Geschwindigkeit erreichen, dachte er, werde die Leistungen meiner besten Erdentage verdoppeln.
    Sein Gefieder leuchtete jetzt ganz weiß, und seine Schwingen schimmerten glatt und vollendet wie poliertes Silber Voller Freude erprobte er sie und ließ seine Kraft in diese neuen Flügel einströmen. Bei vierhundert Stundenkilometern spürte er, daß er sich seiner Höchstgeschwindigkeit im Horizontalflug näherte, Bei vierhundertfünfzig hatte er das äußerste erreicht und war fast etwas enttäuscht. Auch dieser neue Körper war also in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Er hatte zwar seinen früheren Weltrekord überboten, doch immer noch gab es eine Grenze, die ihn zu großen Anstrengungen herausforderte. Im Himmel, dachte er, im Himmel sollte es keine Beschränkungen mehr geben.
    Die Wolkendecke riß auf, seine Begleiter riefen: «Glückliche Landung, Jonathan!» und lösten sich in durchsichtige Luft auf. Er schwebte über einem Meer auf eine zerklüftete Küste zu. Einzelne Möwen kämpften mit den Aufwinden über den Klippen.
    Fern im Norden, fast am Rande des Horizonts, kreisten noch ein paar Vögel. Neue Ausblicke, neue Gedanken, neue Fragen. Warum nur so wenig Möwen? Der Himmel müßte voll von Schwärmen sein. Und er war so müde. Im Himmel dürfte es doch keine Müdigkeit geben.
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