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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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sechzehn Umdrehungen.
    Er zählte die Umdrehungen laut mit. «acht...neun...zehn...Jonathan, Jonathan. die Geschwindigkeit reicht nicht aus... elf...ich will-kurze-scharfe-Stops-wie- du...zwölf...verdammt-ich-krieg's-nicht-hin...dreizehn...noch...dreizehn...vierzehn...aaakk!»
    Die letzte Drehung schlug durch seinen Ärger und seine Wut über das Versagen völlig fehl. Fletcher kippte nach hinten um, taumelte, trudelte, warf sich wutentbrannt in einen einwärts drehenden Kreiselflug und fing sich endlich krächzend einige hundert Meter unterhalb von seinem Lehrer ab.
    «Du vergeudest deine Zeit mit mir, Jonathan! Ich bin zu dumm! Ich bin ein Idiot! So oft ich es auch probiere, ich kriege es nicht hin!»
    Jonathan blickte zu ihm hinab und nickte. «Du wirst es bestimmt nicht schaffen, so lange du so hart hochziehst. Du verlierst zu viel Geschwindigkeit, bevor du die Rolle beginnst. Du mußt weicher sein, Fletcher! Energisch, aber nicht krampfhaft! Denk daran.» Er senkte sich zu der jungen Möwe hinab. «Versuchen wir es gemeinsam, in Formation. Achte genau auf das Hochziehen. Man muß weich und leicht hineingehen.»
    Drei Monate waren vergangen. Jonathan hatte inzwischen sechs weitere Schüler, lauter Außenseiter, die aus Freude am Fliegen neugierig waren auf die seltsamen neuen Ideen. Freilich war es für sie leichter, die hohe Kunst zu erlernen, als die Idee zu erfassen, die dahinterstand.
    «In jeder einzelnen von uns ist in Wahrheit das Ideal der Großen Möwe, die unbegrenzte Idee der Freiheit», erklärte Jonathan ihnen abends auf dem Strand wieder und wieder. «Der Präzisionsflug ist nur ein Schritt weiter in der Darstellung unserer wahren Natur. Wir müssen alle Begrenzung hinter uns lassen. Deshalb üben wir Spitzengeschwindigkeiten, Langsamflug und Flugakrobatik...» ...und seine Schüler schliefen dabei ein, erschöpft vom Tagespensum. Sie liebten ihre Übungsstunden, die aufregenden Geschwindigkeiten, die ihren Hunger nach mehr Können von Stunde zu Stunde erhöhten. Aber nicht einer von ihnen konnte glauben, daß der Gedankenflug ebenso Reales sei wie die Bewegung ihrer Schwingen, die sie durch die Lüfte trugen.
    «Der ganze Körper ist von einer Flügelspitze zur anderen nichts anderes als Gedanke» sagte Jonathan. «Geist in sichtbarer Gestalt. Durchbrecht die Beschränktheit eures Denkens, und ihr zerbrecht damit auch die Fesseln des Körpers...» Aber was er ihnen auch sagte, es klang nur wie wunderschöne Phantasien, die sie angenehm einschläferten.
    Nach einem Monat erklärte Jonathan, die Zeit sei reif, um zum Schwarm zurückzukehren. «Wir sind noch nicht so weit!» sagte die Möwe Henry. «Man will uns da nicht haben. Wir sind ausgestoßen. Wir wollen uns nicht aufdrängen, wo man uns nicht haben will»
    «Wir sind frei, wir können fliegen, wohin wir wollen, und sein, was wir sind», erwiderte Jonathan. Er hob sich vom Sand ab und wandte sich gen Osten zu den Heimatgründen des Schwarmes. Seine Schüler zauderten. Die Gesetze des Schwarmes erlauben keinem Verbannten jemals die Heimkehr, und noch nie hatte einer sie zu brechen gewagt. Das Gesetz befahl ihnen, zu bleiben; Jonathan gebot ihnen heimzufliegen. Er hatte schon eine große Strecke zurückgelegt; wenn sie noch länger zögerten, würde er allein bei dem feindlich gesinnten
    Schwarm eintreffen.
    Fletcher Lynd meinte betont selbstsicher: «Eigentlich
    brauchen wir dem Gesetz gar nicht zu gehorchen, schließlich gehören wir dem Schwarm ja gar nicht mehr an.»
    «Und wenn es zu einem Kampf kommt, müssen wir Jonathan dort helfen.» Und so flogen sie denn an jenem Morgen von Westen her ein, acht Möwen in einer doppelten Formation; die Flügelspitzen überlagerten einander fast. Pfeilschnell überflogen sie den Versammlungsplatz des Schwarms. Jonathan hielt die Spitze.
    Fletcher glitt leicht an seinem rechten Flügel dahin, und Henry hielt sich tapfer an seinem linken Flügel. Dann rollte die geschlossene Formation wie ein einziger Vogel langsam rechts ab...zog gerade...drehte nochmals...und wieder gerade. Und der Wind peitschte über sie hinweg. Das alltägliche Gekrächze und Gekrakel des Schwarms verstummte wie abgeschnitten, als ob die Formation ein Riesenmesser wäre. Viertausend Augenpaare starrten ohne zu Bunkern zu ihnen empor. Die acht weißen Vögel zogen nun einer nach dem anderen im steilen Winkel hoch zum Überschlag in ein volles Looping, schwebten durch eine vollkommene Kreisbahn und setzten alle exakt gleichzeitig in
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