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Die Möwe Jonathan

Die Möwe Jonathan

Titel: Die Möwe Jonathan
Autoren: Richard Bach
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warum keine Möwe mit voller Wucht solche Sturzflüge versucht. Schon nach sechs Sekunden schoß er mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometern abwärts, und bei diesem Tempo können die Schwingen dem Luftdruck nicht standhalten.
    Es war immer das Gleiche. So sehr er sich auch bemühte und anstrengte - bei hoher Geschwindigkeit verlor er die Kontrolle über den Flügelschlag. Er stieg hoch auf, mit voller Kraft, setzte flatternd zum senkrechten Sturzflug an, und dann versagte immer wieder der linke Flügel im Aufschlag, daß der Körper heftig nach links abdrehte. Er fing sich durch Abstellen des rechten Flügels wieder und schoß wie ein Blitz kreiselnd schräg nach rechts abwärts.
    Er konnte gar nicht achtsam genug sein. Zehnmal nacheinander versuchte er den Sturz, und jedesmal zerflatterte er bei der hohen Geschwindigkeit und klatschte haltlos als wild gesträubtes Federnbündel hart auf dem Wasser auf.
    Schließlich dachte er - tropfnaß - vielleicht darf man bei hohen Geschwindigkeiten die Flügel nicht bewegen, muß bis zirka fünfzig mit den Flügeln schlagen und sie dann stillhalten.
    Er versuchte es noch einmal. Aus sechshundert Meter Höhe kippte er. Schnabel senkrecht nach unten zum Sturzflug, flatterte mit voll ausgespannten Schwingen bis zu einer Stundengeschwindigkeit von etwa achtzig Kilometern und hielt sie dann unbeweglich weit ausgespannt. Das erforderte alle seine Kräfte, aber es gelang.
    Innerhalb von zehn Sekunden hatte er das schwindelnde Tempo von hundertfünfzig Stundenkilometern erreicht und überschritten. Jonathan hatte einen Weltrekord in Geschwindigkeit unter Seemöwen aufgestellt! Doch der Sieg war trügerisch. Kaum änderte er zum Aufsetzen aus dem senkrechten Sturzflug den Winkel der Flügelstellung, so verlor er die Kontrolle, der Luftdruck traf ihn wie eine Sprengladung. Er schien mitten in der Luft zu explodieren, dann prallte er auf die See auf. die hart war wie Beton.
    Als er wieder zu sich kam, war es bereits dunkel, er trieb im Mondlicht auf dem Meer dahin. Die Flügel waren zerzaust und schwer wie Blei, doch noch schwerer bedrückte ihn das Gefühl des Versagens. Fast wünschte er, die Last möge ihn sacht auf den Grund drücken, daß alle Mühe ein Ende habe.
    Doch als er langsam tiefer sank, klang es seltsam dumpf aus ihm heraus: Du darfst nicht aufgeben, aber du bist nur eine Möwe und kannst über deine Natur nicht hinaus. Wärest du zu solchen Flügen bestimmt, dann hättest du dafür Diagramme, Richtlinien im Kopf. Wärest du zum raschen Fliegen bestimmt, du hättest kurze Flügel wie der Falke und würdest Mäuse fressen statt Fische. Dein Vater hatte recht.
    Schluß mit den Torheiten. Flieg heim zu deinem Schwarm und finde dich damit ab, daß eine kleine Seemöwe ihre Grenzen hat. Die Stimme schwieg, und Jonathan mußte ihr zustimmen, Möwen verbringen die Nacht nahe der Küste, auf dem Wasser; und er wollte von jetzt an eine normale Möwe sein, sich dem Schwarm zugesellen, glücklich sein unter seinesgleichen.
    Erschöpft hob er sich von der dunklen Wasserfläche ab und zog mit mattem Flügelschlag landeinwärts, froh, daß er früher den kräftesparenden Flug in niedriger Höhe geübt hatte. Doch nein, Schluß mit alten Gewohnheiten. Schluß mit allem Lernen. Ich bin eine Möwe, dachte er, ich bin wie die anderen Möwen, ich will auch fliegen wie die anderen Möwen. So stieg er mühsam bis zu dreißig Meter Höhe, schlug angestrengt mit den Flügeln und strebte der Küste zu.
    Er war erleichtert über die Entscheidung, Er fühlte sich befreit von allem Zwang zum Lernen, von nun an würde es keine Herausforderung mehr geben, keine Fehlschläge, Und es war angenehm, so gedankenlos durch das Dunkel auf die Lichter an der Küste zuzufliegen, Dunkel! Die dumpfe innere Stimme meldete sich, brüchig im Erschrecken. Möwen fliegen nicht bei Dunkelheit! Jonathan beachtete sie nicht. Schön, dachte er. Mond und Sterne blinken im Wasser und ziehen ihre schmalen Leuchtspuren durch die Nacht. Alles ist friedlich und still...
    Komm herunter! Möwen fliegen nicht bei Dunkelheit! Nie! Wärest du zum Nachtflug bestimmt du hättest Augen wie die Eule, Du hättest Blindflugkarten im Kopf! Du hättest die kurzen Flügel des Falken! Doch die Möwe Jonathan, die in dreißig Meter Höhe durch die Nacht flog, achtete nicht auf die Warnung, hörte nur die letzten Worte. Angst, Erschöpfung, gute Vorsätze waren vergessen.
    Kurze Flügel. Die kurzen Flügel des Falken!
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