Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
und kam zu dem Schluss, dass Cullus entweder ein meisterhafter Imitator war – oder wirklich noch erhebliche Schmerzen verspürte. Da er ihm nichts Böses unterstellen wollte, ging er von Letzterem aus.
    »Nun gut«, sagte er, »ich muss wohl noch für ein paar Tage deine Stunden in der Schule übernehmen. Aber nur, wenn du meine Medizin weiter wie vorgeschrieben einnimmst. Willst du das tun?«
    Cullus grinste erleichtert. »So wahr mir Gott helfe!«
    »Den Saft der Herbstzeitlose muss ich erst neu pressen und anmischen, vor heute Abend bekommst du ihn nicht. Lass bis dahin die Mahlzeiten weg und trinke auch keinen Rotspon, umso schneller wird es dir besser gehen.«
    »Ja, Bruder, ich tue alles, was du sagst. Auch wenn es mir sehr, sehr schwer fällt.«
    »Schön.« Thomas wollte die Zelle verlassen, wurde aber von seinem Mitbruder zurückgehalten, der ihm mit treuherziger Miene nachrief: »Wenn im nächsten Monat das Grün wieder ins Kraut schießt, helfe ich dir beim Pflücken im Herbalgarten, Thomas! Das ist so gewiss, wie Gott die Erde in sechs Tagen erschuf!«
    Pater Thomas war versöhnt und ging.
    Einem wie Cullus konnte man nicht lange gram sein.
     
    »
Gallia est omnis divisa in partes tres …
Ganz Gallien ist in drei Teile geteilt …
Gallia est omnis divisa in partes tres …
Ganz Gallien ist …« Der leiernde Singsang der Schüler wirkte einschläfernd auf Thomas. Aber er war notwendig. Das ständige Repetieren eines Textes stellte noch immer die beste Methode dar, das Gefühl für Latein zu entwickeln. Und die einfache Sprache aus Caesars
De bello Gallico
tat ein Übriges. Dennoch hatte er nicht den Eindruck, als wären die Schüler mit Begeisterung dabei. Sie wirkten lustlos, allesamt. Nina fehlte.
    Nina. Was Orantes’ Tochter wohl in diesem Augenblick tat? Sicher pflegte sie die alte Tonia mit großer Umsicht. Wieder stand ihm die Operation mit dem schrecklichen Ergebnis vor Augen – wie so oft in den letzten Stunden. Er hatte vor der Prim für die Stoffweberin gebetet und sich danach etwas besser gefühlt. Die Zwiesprache mit dem Herrn hatte ihn gestärkt. Doch nun bemächtigten sich seiner wieder Enttäuschung und Bitterkeit. Was nützte die beste chirurgische Arbeit, wenn sie völlig umsonst war? Welche Antwort gab Gott auf diese Frage? Thomas faltete unbewusst die Hände. Vielleicht war es einfach so, dass der Mensch mehr glauben als fragen sollte. Ja, so war es wohl.
    »
… quarum unam incolunt Belgae …
einen davon bewohnen die Belgier …
quarum unam incolunt Belgae …
einen dav …« Der Singsang brach unvermittelt ab. Pater Thomas schreckte auf. Was war los? Alle Schüler blickten auf einmal zur Tür. Und in der Tür stand – Nina.
    Thomas war so überrascht, dass er im ersten Augenblick kein Wort hervorbrachte. »Was machst denn du hier?«, fragte er schließlich.
    »Entschuldigt, Vater, dass ich störe, aber ich muss Euch dringend sprechen.«
    »Ist etwas mit der alten Tonia?« Der Pater sprang auf und war mit wenigen Schritten bei Orantes’ Tochter.
    »Nein, oder … eigentlich doch.«
    »Ja, was denn nun?« Thomas konnte seine Ungeduld nicht zügeln. Er war voller Sorge und zog die junge Frau hinaus auf den Gang. »Lebt sie?«
    »Ja, ja. Es geht ihr soweit gut. Es ist etwas anderes. Sie hat mir etwas erzählt. Ich glaube, es ist sehr wichtig!«
    »So, sie lebt.« Thomas war einigermaßen beruhigt. »Setzen wir uns dort drüben in das Bogenfenster. Ich höre, meine Tochter.«
    Nina begann etwas unschlüssig. »Nun, Vater, ich muss wohl damit anfangen, dass die alte Tonia Euch angesehen hat, wie es um sie bestellt ist. Sie sagte, sie habe nicht mehr lange zu leben, sie sei ganz sicher, und deshalb müsse sie mir etwas erzählen. Eine Begebenheit, die lange zurückliege und die ihr noch immer wie ein Mühlstein auf der Seele laste.«
    »Ja? Worum handelt es sich?«
    »Nun, Vater, es ist eine lange Geschichte.«
    Und dann berichtete Nina, was Tonia erzählt hatte. »›Vor ungefähr zwanzig Jahren‹, hatte sie gesagt, ›schleppte sich eine junge, völlig entkräftete Frau über die Schwelle unseres Hauses. Mein Mann lebte damals noch. Er wollte sofort den Bader holen, aber die Fremde lehnte ab. ‚Mein Leben hat sich erfüllt‘, flüsterte sie. ‚Mein Sohn liegt vor dem Tor des Klosters. Man wird für ihn sorgen.‘ Ich wollte ihr heiße Brühe geben, aber sie schüttelte den Kopf. Ich bot ihr Brot an, dann Käse, dann Suppe – vergebens. Die Frau verweigerte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher