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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
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entzünden – wenn ich denn jemals wieder laufen kann. Oh, oh, oh …!«
    »Ich lasse dir ein Fläschchen Herbstzeitlosensaft hier«, hatte Thomas erwidert, »nimm alle Stunde einen Löffel voll, insgesamt fünf Male, aber um des lieben Herrgotts willen keinen einzigen mehr. Denke daran, was die heilige Hildegard von Bingen über die Herbstzeitlose geschrieben hat:
›… und wenn ein Mensch sie isst‹,
sagte sie,
›davon stirbt er oft, weil darin mehr Gift als Gesundheit ist.‹«
    »Oh, oh, oh!«
    »Cullus, so höre doch! Nur einen einzigen Löffel! Und nur jede Stunde einen. Fünf Mal. Viel hilft nicht immer viel! In diesem Fall ist es genau umgekehrt.«
    Pater Thomas schreckte auf. Zwei oder drei der Lausebengel hatten, während er mit seinen Gedanken weit fort gewesen war, ein munteres Schwätzchen begonnen. Das ging denn doch zu weit. »Ruhe!«, donnerte er und erhob sich. »Wollen doch einmal sehen, ob ihr mit dem Griffel genauso schnell seid wie mit dem Mund.«
    Er steuerte durch die Reihen der Sitzenden und spähte auf das Gekritzel. Es handelte sich dabei um den ersten Satz aus einer Satire des Seneca. Thomas hatte die Aufgabe mit Bedacht gewählt, schien sie ihm doch gleich drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen übten die Schüler sich dabei im Schreiben, zum anderen lernten sie, das Geschriebene zu lesen, und zum Dritten konnten sie sich dabei, wie von selbst, ein paar neue Vokabeln Latein aneignen. Thomas verehrte Seneca, jenen römischen Staatsmann, Philosophen und Dichter, der eine Zeit lang Berater des Kaisers Claudius war, bevor er zum Lehrer seines Nachfolgers Nero berufen wurde.
    Wie nicht anders erwartet, waren die Ergebnisse seiner Anbefohlenen dürftig. Zu ungelenk standen die Buchstaben auf den Schiefertafeln, zu krakelig, als dass er damit hätte zufrieden sein können. Einzig Nina bildete eine Ausnahme. Ihre Lettern waren sauber niedergeschrieben, Wort für Wort. Ja, Nina, die älteste Tochter von Carlos Orantes, einem kleinen Landpächter aus der Gegend von Punta de la Cruz, hatte ihre Sache wie immer gut gemacht. Sie war ein ernstes Mädchen, lernbegierig und sehr begabt, womit sie sich deutlich von ihren Mitschülern unterschied. Sie interessierte sich sehr für die Heilkunst, hatte Freude an der Kräuterkunde und war zu alledem bildhübsch. Ihr Gesicht glich dem einer Madonna, mit makelloser Haut und ausdrucksstarken schwarzen Augen, die von langen, seidigen Wimpern umrahmt wurden. Ihre Nase war ein Näschen, gerade und kurz, ihre Lippen waren rot und voll, vielleicht sogar ein wenig zu rot und zu voll für eine Madonna, doch zweifellos wunderschön …
    Etwas erschreckt gebot Pater Thomas seinen davongaloppierenden Gedanken Einhalt. Hatte er soeben gegen sein Keuschheitsgelübde verstoßen? Nein, nein, beruhigte er sich. Auch ein Priester hatte Augen, um zu sehen, und diese Augen sagten ihm, dass Nina kein Kind mehr war. Übernächsten Monat, im Mai, würde sie siebzehn Jahre zählen und damit ein Alter erreicht haben, in dem viele andere schon verheiratet waren. Aber Orantes, ihr Vater, schien sich darum nicht zu scheren. Er schickte seine Tochter an drei Tagen in der Woche zur Schule, und es schien ganz so, als sei er stolz auf ihr kluges Köpfchen.
    »Ihr müsst noch viel üben!«, sagte Thomas laut, wobei er sich bemühte, streng zu klingen. »Schreibt den Satz noch dreimal nieder. Anschließend lesen wir ihn gemeinsam und übersetzen ihn. Du, Nina, kannst einen Augenblick Pause machen.«
    »Ja, Vater.« Orantes’ Tochter legte den Griffel beiseite.
    Einer der Jungen fragte: »Was ist das eigentlich für’n Satz, Vater?«
    Thomas runzelte die Stirn. »Die Worte stammen aus einer Satire des Seneca. Seneca war nicht nur ein Poet, sondern auch Advokat, Quästor und Senator im alten Rom.«
    »Und was ist, äh, eine Satire?«
    »Das Wort kommt vom Lateinischen ›satira‹, worunter man eine mit Früchten gefüllte Schüssel versteht. Hier ist das natürlich anders gemeint. Die Satire ist eine Literaturform, in der mittels Ironie bestimmte Menschen oder Zustände der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollen.«
    »Und was ist Ironie?«
    Pater Thomas, der mittlerweile an seinen Platz zurückgekehrt war, setzte sich. »Ich habe den Eindruck, du fragst nur, damit du um das Schreiben herumkommst, Pedro, aber das wird dir nicht gelingen.«
    Pedro blickte ertappt zu Boden.
    »Aber ich will dir trotzdem antworten. Die Ironie ist eine Art Spott.«
    Jetzt war es José, der
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