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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
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gebogene Nadeln, an deren Ende ein gedrehter Flachsfaden befestigt war, und stieß sie kreuzweise unter der Geschwulst hindurch. Dann nahm man die vier Fadenenden gleichzeitig auf und konnte so den Knoten gesamtheitlich hochziehen und mit dem Skalpell von seinem Untergrund abtrennen. Die zweite Methode war zweifellos viel blutiger.
    Nina trat heran. »Ich habe alles gemacht, Vater. Was soll ich jetzt tun?«
    »Warte, meine Tochter«, erwiderte Thomas. »Ich will nur rasch meine Instrumente herrichten.« Er breitete ein sauberes Stück Leinen vor dem Strohlager aus, legte seine Zangen, Nadeln, Skalpelle, Scheren, Sonden, Haken, Spreizer, Kauter, Lanzetten und all die anderen Utensilien darauf und griff endlich zu einem Fläschchen mit der Beschriftung
Tct. Laudanum
. Er gab es Nina. »Flöße Tonia den Inhalt ein, dann wird sie sich rasch entspannen.«
    »Ja, Vater. Was bedeutet
Tct. Laudanum?
«
    »Es heißt vollständig
Tinctura Laudanum.
Ein Schmerz- und Beruhigungsmittel, bestehend aus Alkohol und Drogen, vor allem aber aus dem Saft, der in der Kapsel der Opiumpflanze zu finden ist.«
    »Habt Ihr es selbst hergestellt?«
    »Natürlich.«
    Nina wollte noch weiter fragen, fühlte aber, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Sie hob der Alten leicht den Kopf an und setzte das Fläschchen an ihre Lippen. Gehorsam trank die Kranke.
    »Und jetzt lege diese beiden Kauter ins Feuer. Achte darauf, dass ihre Spitzen zur Gänze mit Glut bedeckt sind. Und fache die Flammen nochmals mit dem Blasebalg an.«
    Während Orantes’ Tochter gehorchte, verfiel Thomas ins Grübeln. Er zog sich eine Kiste heran und stützte das Kinn in die Faust. Welche Methode sollte er wählen? Wie immer bei einer Operation galt es Risiken und Möglichkeiten abzuwägen. Der Eingriff mit der Fasszange war zwar kleiner und unblutiger, aber im Fall der Bösartigkeit kam der Brustfraß leichter wieder zurück. Die große Operation mit den Flachsfäden hingegen versprach mehr Hoffnung auf Heilung, konnte aber zum alsbaldigen Tode führen, etwa durch Verbluten. Es half nichts, er musste sich entscheiden. Thomas atmete tief durch und erhob sich. Zuvor wollte er noch die linke Brust auf Verhärtungen abtasten. Fand sich in ihr nichts, sollte die Fasszange genügen, saß jedoch auch dort ein Knoten, sollten die Nadeln mit den Flachsfäden zum Einsatz kommen. Und dann gleich bei beiden Brüsten.
    Er kniete sich vor die Kranke und begann die Untersuchung. Er nahm sich Zeit. Die alte Tonia befand sich bereits in einem gnädigen Dämmerzustand und nahm das Geschehen um sich herum kaum noch wahr. Dann stand fest, dass die linke Seite nicht befallen war. Das gab den Ausschlag. »Ich werde mit der Fasszange arbeiten«, sagte Thomas zu Nina, »hilf mir, die Patientin mehr ins Helle zu drehen. Licht ist das Wichtigste bei einer Operation, ohne Licht nützen die geschicktesten Hände und die besten Instrumente nichts.«
    Nachdem sie die Lagerstatt mit der Patientin in die wenigen von außen hereindringenden Sonnenstrahlen geschoben und auch noch die Kerzen dazugestellt hatten, ließ Thomas sich auf der rechten Seite des Bettes nieder. Er bedauerte, dass es im Haus keinen Tisch gab, auf dem die Kranke hätte liegen können. Alles wäre dann einfacher gewesen. So aber musste er den Eingriff auf Knien vornehmen, ein Umstand, der ihn schmerzlich daran erinnerte, dass er die Sechzig schon überschritten hatte. »Du setzt dich am besten an der Kopfseite nieder, dann kannst du mir leichter behilflich sein«, sagte er.
    »Ja, Vater.« Ninas Augen blitzten. Pater Thomas hatte sie als seine Helferin bezeichnet! Mit einer graziösen Bewegung sank sie in den Schneidersitz.
    »Ich werde den Knoten mit der Fasszange packen und empordrücken. Das tue ich, indem ich die beiden Griffe zusammenpresse. Ich werde es so machen, dass die Griffenden dabei zu dir zeigen, dann kannst du sie später leichter übernehmen. Drücke die Zange nur weiter fest zusammen. Alles andere überlasse mir.« Er setzte das Instrument an, und schon beim zweiten Mal gelang es ihm, die Geschwulst von unten zu umfassen. Langsam drückte er zu. Die alte Tonia gab einen seufzenden Laut von sich. Gott sei Dank schien sie von alledem nichts mitzubekommen. Der Gewebeknoten wanderte nach oben. Durch den Druck spannte die Haut sich jetzt so, dass die Konturen der Geschwulst scharf hervortraten.
    »Der Knoten sieht aus wie eine harmlose Birne, die auf der Seite liegt«, sagte Thomas. »Hoffentlich ist es
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