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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
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da soll ich fragen …«
    »Schon gut. Setz deine Kappe auf und laufe zu ihr zurück. Sage ihr, ich käme so bald wie möglich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte Thomas dem Jungen den Rücken. Das war es also! Jemand litt Not und brauchte sofort seine ärztliche Hilfe. Seine Vorahnung hatte sich wieder einmal bestätigt! Er eilte zurück in den Klassenraum. »Für heute ist Schluss, Kinder, geht nach Hause. Ich muss zu einer Patientin.«
    Den verhaltenen Jubel der Schüler im Ohr, lief er nach draußen, vorbei am Badehaus des Klosters, auf dem Weg zum Nosokomium, dem Hospital von Campodios. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken, was es mit dem »Klumpen in der Brust«, wie Felipe es ausgedrückt hatte, wohl auf sich habe. Zweifellos handelte es sich um eine Geschwulst, wobei sich die Frage stellte, ob diese gutartig oder gefräßig war. Traf Letzteres zu, sprach der Arzt von Brustfraß. Die Krankheit zerstörte zuerst das Gewebe, dann die Organe und zuletzt das Leben. Eine niederschmetternde Diagnose, bei der alle Therapiekunst fast immer vergebens war. Die alten Meister empfahlen, den Knoten so früh wie möglich zu entfernen, zu einem Zeitpunkt, da er nicht größer als ein
Pisum
, eine Erbse, war. Aber welche Frau tastete schon täglich ihre Brüste ab, um erbsengroße Verdickungen aufzuspüren! Die gute Tonia hatte gewiss anderes zu tun. Seit ihr Mann vor vielen Jahren gestorben war, hatte sie schon Mühe genug, sich mit der Weberei ihr täglich Brot zu verdienen.
    Mit diesen und anderen Gedanken betrat Thomas das Hospital, einen kargen Raum mit acht Betten, von denen allerdings nur drei belegt waren. Die Kranken hatten Influenza, fieberten, niesten und husteten, und Bruder Paulus, sein Assistent, erneuerte gerade die heißen Wadenwickel.
    »Laudetur Jesus Christus!«,
grüßte Thomas geistesabwesend, und Paulus murmelte die Antwortformel:
»In aeternum, in aeternum.«
    Rasch strebte Thomas einem kleinen Nebenraum zu, in dem er seinen Instrumentenkasten und ein Quantum ausgesuchter Kräuter verwahrte. Beides packte er auf ein Tragegestell und schulterte es. »Bitte sei so gut, Bruder, und entschuldige mich bei Abt Gaudeck, ich muss zu einer Kranken und werde deshalb die nächsten Stundengebete nicht einhalten können«, sagte er, während er überlegte, ob er seinen Assistenten bitten sollte, ihn zu begleiten. Eine Brustoperation, und eine solche würde wohl vonnöten sein, war keine Kleinigkeit. Und vier Hände bewirkten nun einmal mehr als zwei. Doch dann sah er, wie beschäftigt Paulus war, und beschloss, es allein zu versuchen.
    »Ist recht. Geh mit Gott, Bruder!«, rief Paulus ihm hinterher.
    Thomas verlor keine Zeit. Mit großen Schritten strebte er zum Nordtor, nickte Bruder Castor kurz zu – und blieb wie angewurzelt stehen. »Nina!«, entfuhr es ihm, »was machst du denn noch hier?«
    Orantes’ Tochter löste sich aus dem Schatten des Gittertors und trat vor ihn. Sie reichte dem großen, hageren Mann kaum bis zur Schulter. »Ich dachte, ich begleite Euch, Vater«, sagte sie ruhig. »Ich kenne die alte Tonia gut. Ich möchte ihr gerne helfen, indem ich Euch helfe. Außerdem kenne ich den Weg zu ihrem Haus.«
    »Tja, hm.« Thomas war für einen Augenblick sprachlos. Nina wollte ihm bei der Operation zur Hand gehen? Eine Frau, die fast noch ein Mädchen war? Noch niemals hatten ihn weibliche Hände bei einer derart diffizilen Tätigkeit unterstützt, und er wusste auch nicht, ob er das gutheißen konnte. »Tja, hm«, wiederholte er unentschlossen. »Höre, Nina, ein solcher Eingriff ist ein blutiges Geschäft. Das ist nichts für zartbesaitete Seelen.«
    Eine kleine Falte erschien über Ninas Nase. »Ich bin nicht zartbesaitet, Vater. Außerdem können wir Frauen eher Blut sehen als mancher Mann. Weil wir es regelmäßig sehen. Ihr wisst schon, was ich meine.«
    Thomas wurde die Sache ein wenig peinlich. »Hm, ja, ja, schon gut.«
    »Wisst Ihr überhaupt, wo Tonia wohnt?«
    Der Pater musste einräumen, dass er keine Ahnung hatte. Er war einfach so, den Kopf voller Überlegungen, losgelaufen.
    »Dann komme ich mit. Gestattet, dass ich vorgehe.« Mit kleinen, schnellen Schritten eilte Nina voraus, den schmalen Pfad entlang, der sich in sanften Biegungen den Hang hinabschlängelte. Kurz bevor sie das Tal erreichten, fragte Thomas:
    »Woher kennst du eigentlich die alte Tonia?«
    Nina wandte sich im Gehen um. »Ich habe viele Geschwister, Vater, und es ist nicht immer leicht, alle satt zu bekommen,
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