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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen
Autoren: Wolf Serno
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beiden Berylle, die er trug, seine Sehschwäche nur unzureichend ausgleichen konnten.
    Ein solches Nasengestell mit Linsen hatten die Zuhörer noch niemals gesehen, und das, obwohl sie in einer weltoffenen Hafenstadt lebten. Phönizier, Römer, Goten, Wandalen, Byzantiner, Araber und wohl noch ein halbes Dutzend andere Völker hatten in ihren Mauern gelebt, sie manches Mal zerstört, doch immer wieder aufgebaut. Die Bewohner, ihre Kinder und Kindeskinder hatten sich als so überlebensstark erwiesen, dass Eroberer und Zuwanderer immer wieder im Schmelztiegel der Rassen aufgegangen waren – hier an diesem ganz besonderen Ort, wo das Westmeer auf das Mittelländische Meer traf, der Islam auf das Christentum prallte und das Tor nach Afrika aufgestoßen wurde.
    Der kleine, drahtige Mann machte eine Pause, denn als guter Erzähler wusste er, dass dadurch eine Geschichte nur noch spannender wurde. »Gieße etwas Wasser auf die Plane über uns, Enano«, sagte er zu dem Zwerg neben sich. »Sonst dörrt es uns allen das Hirn aus.«
    »Wui, wui, Magister«, fistelte der Winzling mit seinem Fischmündchen und blickte nach oben, wo über den Köpfen der Lauschenden ein großes Stück Segeltuch gespannt war. Er nahm einen Holzeimer und kletterte wie ein Äffchen das Stützgestänge hinauf. Hier und da ertönte Gelächter. Der Kleine mit seinen roten Haarbüscheln, dem hellblauen Kindergewand und dem fassähnlichen Buckel erinnerte an eine Mischung aus Kobold und Narr, und in gewisser Hinsicht war er das auch. Auf dem höchsten Punkt angekommen, goss er den Inhalt nach und nach aus. »Wui, der Plempel spreizt sich dull!«, rief er fröhlich und schien sich nicht im Mindestens daran zu stören, dass seine Rotwelschbrocken von niemandem verstanden wurden.
    Das Wasser verteilte sich auf dem Tuch, feuchtete es auf breiter Fläche an und schaffte so Verdunstung und Linderung für die darunter Sitzenden. Beide, der drahtige Mann, der Magister gerufen wurde, und Enano, der Zwerg, waren eine Zeit lang zur See gefahren, wo sie diese segensreiche Erfindung kennen gelernt hatten.
    »Erzähle weiter, Magister!«, forderte ein dürrer Alter und wischte sich ein paar der hartnäckigen Fliegen von den Augen.
    »Ja, erzähle weiter!«, erklang es von mehreren Seiten. »Was ist eine eiserne Jungfrau?«
    »Eine eiserne Jungfrau?«, fragte der Magister mit überraschend dunkler Stimme zurück. »Sagte ich das nicht schon?«
    »Nein, das sagtest du nicht.«
    Der drahtige Mann spitzte die Lippen und machte ein geheimnisvolles Gesicht. Unwillkürlich beugten sich die Zuhörer vor. »Nun, so wisset, die eiserne Jungfrau ist weder Mensch noch Tier, denn sie ist nicht aus Fleisch und Blut. Sie steht tief unten im Kerker von Dosvaldes, einem Provinznest in Nordspanien. Sie steht dort, solange es Menschen gibt, und manche sagen, es gab sie schon, bevor Gott der Herr oder, um es mit euren Worten zu sagen, Allah der Allmächtige die Welt erschuf. Satan ist zugleich ihr Vater, ihr Sohn und ihr Bruder. Ihr Lächeln ist tot, ihr Mund ist so schmal wie der Rücken eines Dolchs, ihr Gewand ist aus Stahl und reicht bis zum Boden hinab.«
    Ein Raunen lief durch die Reihen. Die Männer steckten die Köpfe zusammen.
    »Ich sah sie im unruhigen Licht der Fackeln, Freunde, und ihr totes Lächeln bekam plötzlich Leben. Ich ging auf sie zu und wollte sie untersuchen, doch der junge Lord hielt mich davon ab. ›Tu’s besser nicht, ich habe ein ungutes Gefühl‹, sagte er, ›irgendetwas stimmt mit ihr nicht.‹ Ich ließ von ihr ab, und wir fanden ein Buch, in dem stand, dass die eiserne Jungfrau auch ›Schmerzensreiche Mutter‹ oder
Madre dolorosa
genannt wird. Sie war also ein verborgenes Folterinstrument!
    Ich fragte: ›Und wie funktioniert die Dame? Steht das auch da?‹ Und der junge Lord las vor:
    ›… item muss der verurteilte Suender verbundenen Auges dem weiblichen Automath entgegenschreiten, alsdann dieser sich oeffnet wie die Schenkel eines wollüstigen Weibes und also ihn zerstöret.‹
    Vorn an ihrem Mantel befanden sich zwei Griffe, dort, wo auf einer Schürze die Taschen sitzen«, fuhr der Magister fort, »wir wollten daran ziehen, doch plötzlich hörten wir ein geheimnisvolles Rauschen. Es kam von der Figur. Wir zögerten, dann öffneten wir sie links und rechts mit entschlossenem Ruck, und siehe da …!«
    Wieder machte der kleine Mann eine Kunstpause und erreichte prompt, was er beabsichtigt hatte.
    »Ja? Was sahst du da?«
    »Nun sag schon,
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