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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin
Autoren: Neil Gaiman
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Seite, wo ein Keiler ihn einmal verletzt hatte, als er als Knabe auf die Jagd geritten war.
    Bald war er nur mehr der Schatten des Mannes, den ich an der Brücke kennen und lieben gelernt hatte. Blau und weiß schimmerten die Knochen durch seine dünne Haut. Ich war bei ihm in seiner letzten Stunde. Seine Hände waren kalt wie Stein, seine Augen milchig blau, Haar und Bart verblasst, glanzlos und schlaff. Er starb ungetröstet, seine Haut von Kopf bis Fuß bedeckt mit winzigen alten Narben.
    Er wog kaum mehr als eine Feder. Die Erde war hart gefroren und wir konnten kein Grab für ihn schaufeln und so errichteten wir einen Steinhaufen über seinem Leichnam, nur zur Erinnerung, denn es war kaum mehr genug Fleisch an ihm, um hungrige Tiere und Vögel anzuziehen.
    So wurde ich Königin.
    Und ich war töricht und jung – achtzehn Lenze waren erst vergangen, seit ich das Licht der Welt erblickt hatte – und so tat ich nicht, was ich heute täte.
    Wäre es heute geschehen, hätte ich ihr das Herz herausschneiden lassen, gewiss. Aber damit nicht genug. Als Nächstes hätte ich ihr Kopf, Arme und Beine abhacken lassen. Ich hätte befohlen, ihr die Eingeweide herauszuschneiden. Dann hätte ich auf dem Marktplatz gestanden und zugeschaut, während der Henker das Feuer anfachte, bis es weiß glühte, hätte ohne mit der Wimper zu zucken zugesehen, wie er sie Stück um Stück dem Feuer überantwortete. Und ich hätte Bogenschützen um den Marktplatz postiert und befohlen, jeden Vogel und jedes Tier zu erschießen, das sich den Flammen näherte, jede Ratte, jeden Raben, Hund oder Falken. Und ich hätte die Augen nicht geschlossen, ehe die Prinzessin zu Asche zerfiel, die eine sachte Brise zerstreuen mochte.
    Doch das habe ich nicht getan und wir zahlen für unsere Fehler.
    Sie sagen, ich habe mich täuschen lassen, es sei nicht ihr Herz gewesen. Dass es das Herz eines Tieres war, eines Hirschs vielleicht oder eines Wildschweins. Das sagen sie und sie irren sich.
    Manche sagen gar (doch das ist ihre Lüge, nicht meine) dass man mir das Herz gebracht und ich es verschlungen hätte. Lügen und Halbwahrheiten fallen wie Schnee und bedecken die Dinge, derer ich mich entsinne, Dinge, die ich sah. Eine Landschaft, die nach dem Schneefall nicht wiederzuerkennen ist, das ist es, was sie aus meinem Leben gemacht hat.
    Ich hatte Narben an meinem Liebsten gefunden, Narben auf ihres Vaters Schenkeln, seinem Hodensack und seinem Glied, als er starb.
    Ich ging nicht mit ihnen. Sie ergriffen sie am Tage, die Zeit, da sie schläft und am schwächsten ist. Sie brachten sie tief in den Wald und dort öffneten sie ihr Hemd, schnitten ihr das Herz heraus und ließen sie tot in einem Graben liegen, auf das der Wald sie verschlinge.
    Der Wald ist ein dunkler Ort, Grenze vieler Königreiche. Niemand wäre so töricht, die Herrschaft über den Wald zu beanspruchen. Gesetzlose leben dort, Räuber und Wölfe. Man kann viele Tage durch den Wald reiten, ohne je einer Menschenseele zu begegnen, doch die ganze Zeit spürt man Augen auf sich gerichtet.
    Sie brachten mir ihr Herz. Ich wusste, es war ihres. Kein Herz einer Sau oder Ricke hätte weiter geschlagen und gezuckt, nachdem es den Körper verlassen hatte, so wie ihres es tat.
    Ich trug es in mein Gemach.
    Ich aß es nicht, sondern hing es an die Balken über meinem Bett an einem Zwirnsfaden, auf den ich Vogelbeeren aufgezogen hatte, orangefarben wie die Brust des Rotkehlchens, und Knoblauchknollen.
    Draußen rieselte der Schnee und bedeckte die Fußspuren meiner Jäger ebenso wie den kleinen Körper, der im Wald lag.
    Ich hieß den Schmied, die Eisenstangen von meinem Fenster zu entfernen, und an jedem der kurzen Winternachmittage verbrachte ich eine Weile in meinem Gemach und sah hinaus auf den Wald, bis es dunkel wurde.
    Es gab, wie ich bereits erwähnte, Menschen im Wald. Manche von ihnen kamen im Frühling anlässlich des Lenzmarktes zum Vorschein; ein raffgieriges, wildes Volk, manche von ihnen missgestaltet, Zwerge und Bucklige, andere hatten die riesigen Zähne und leeren Gesichter von Schwachsinnigen, manche hatten Finger wie Flossen oder Krebsscheren. Jahr um Jahr kamen sie aus dem Wald gekrochen, wenn nach der Schneeschmelze der Lenzmarkt gehalten wurde.
    Als junges Mädchen hatte ich auf dem Markt gearbeitet und damals hatten sie mir Angst gemacht, die Leute aus dem Wald. Ich hatte den Marktbesuchern die Zukunft vorausgesagt, indem ich in einer Schale mit stillem Wasser las, und später,
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