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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin
Autoren: Neil Gaiman
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Hause.«
    Der Mann ging die dunkle Straße hinab und ich saß auf der Bank und schaute ihm nach. Ich hatte das Gefühl, als habe er mir irgendetwas genommen, aber ich konnte mich nicht mehr entsinnen, was es war. Und ebenso spürte ich, dass er mir stattdessen etwas gegeben hatte. Absolution vielleicht. Oder Unschuld. Eine Art Lossprechung, aber von was, konnte ich nicht mehr sagen.
    Plötzlich kam ein Bild in meinen Kopf: eine gekritzelte Zeichnung von zwei Engeln im Flug über einer vollkommenen Stadt und über dem Bild der vollkommene Handabdruck eines Kindes, der das weiße Papier blutrot befleckt. Es kam mir ungebeten in den Sinn und ich weiß nicht mehr, was es bedeutete.
    Ich stand auf.
    Es war zu dunkel, um das Zifferblatt meiner Uhr zu erkennen, aber ich wusste, dass ich heute keinen Schlaf finden würde. Ich ging zurück zu meiner Absteige in dem Haus mit der verkrüppelten Palme, um mich zu waschen und zu warten. Ich dachte an Engel und an Tink und ich fragte mich, ob Liebe und Tod Hand in Hand gehen.
    Am nächsten Tag gingen endlich wieder Flüge nach England.
    Ich fühlte mich seltsam. Der Schlafmangel hatte mich in diesen scheußlichen Zustand versetzt, wo alles belanglos und gleichzeitig bedeutsam erscheint, wo alles egal ist und die Realität dünn und fadenscheinig wirkt. Die Taxifahrt zum Flughafen war ein Albtraum. Mir war heiß, ich war müde und schlecht gelaunt. Ich trug ein TShirt in der kalifornischen Hitze; mein Mantel lag ganz unten in meinem Koffer, wo ich ihn bei meiner Ankunft verstaut hatte.
    Das Flugzeug war total ausgebucht, aber das war mir gleich.
    Die Stewardess ging mit einem Stapel Zeitungen den Gang entlang: Herald Tribune , USA Today und die L.A. Times . Ich nahm eine Times , aber die Worte verflüchtigten sich aus meinem Kopf, sobald meine Augen sie aufnahmen. Nichts, was ich las, blieb mir im Gedächtnis. Nein, das ist gelogen. Irgendwo auf einer der letzten Seiten stand ein Bericht über einen dreifachen Mord: zwei Frauen und ein kleines Kind. Namen wurden nicht genannt und ich weiß nicht, wieso der Bericht mir in Erinnerung blieb.
    Bald schlief ich ein. Ich träumte, dass ich Tink vögelte, während zähflüssiges Blut aus ihren geschlossenen Augen und dem Mund rann. Das Blut war kalt und eklig und nass und ich erwachte mit einem scheußlichen Geschmack im Mund und frierend. Die klimatisierte Luft im Flugzeug war kalt. Ich sah aus dem verkratzten, ovalen Fenster, starrte auf die Wolken hinab und es kam mir (nicht zum ersten Mal) so vor, als seien die Wolken in Wirklichkeit ein Land, ein anderes Land, wo jeder wusste, was er suchte und wie man dahin zurückkam, von wo man aufgebrochen war.
    Auf die Wolken hinabzublicken ist eins von den Dingen, die mir am Fliegen immer gefallen haben. Das und die Nähe zum eigenen Tod, die man spürt.
    Ich hüllte mich in eine dünne Flugzeugdecke und schlief wieder ein, doch wenn ich irgendetwas geträumt habe, ist es mir jedenfalls nicht in Erinnerung geblieben.
    Kurz nach der Landung in England erhob sich ein Schneesturm und verursachte einen Stromausfall im Flughafengebäude. Ich war gerade allein in einem Aufzug. Es wurde dunkel und er blieb zwischen zwei Stockwerken stecken. Ein schwaches Notlicht flackerte auf. Ich drückte den roten Alarmknopf, bis die Batterien leer waren und der Alarmton verstummte. Dann stand ich zitternd in meinem TShirt in einer Ecke meines kleinen silbernen Raums. Ich sah meinen Atem Dampfwolken formen und schlang die Arme um den Oberkörper, um mich zu wärmen.
    Nichts und niemand war dort außer mir, trotzdem fühlte ich mich sicher und gut aufgehoben. Bald würde irgendwer kommen und die Tür aufstemmen. Früher oder später würde man mich befreien. Und ich wusste, dass ich bald zu Hause sein würde.

Schnee, Glas, Äpfel

    Ich vermag nicht zu sagen, was für ein Geschöpf sie ist. Das weiß niemand. Sie tötete ihre Mutter bei der Geburt, aber das ist keine ausreichende Erklärung.
    Sie nennen mich weise, doch ich bin alles andere als weise, selbst wenn ich manches vorausgesehen habe, erstarrte Momente, gefangen in Wasserbecken oder im kalten Glas meines Spiegels. Wäre ich weise, hätte ich nicht versucht zu ändern, was ich sah. Wäre ich weise, hätte ich meinem Leben ein Ende gemacht, lange bevor ich ihr je begegnete, lange bevor ich ihn einfing.
    Weise und eine Hexe. Oder zumindest sagte man das. Und ich hatte sein Gesicht mein Leben lang im Traum und in Spiegelungen gesehen. Sechzehn Jahre des
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