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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Autoren: Kai Meyer
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und hatte ihr die Spiegelungen auf der Oberfläche gezeigt. Spiegelungen, die es eigentlich nicht geben durfte und die nur zwischen zwölf und ein Uhr nachts zu sehen waren. Sie zeigten die Häuser am Ufer des Kanals, und doch waren sie kein Abbild der Wirklichkeit. Manche der gespiegelten Fenster im Wasser waren erleuchtet, obwohl die Gebäude in Wahrheit verlassen und dunkel waren. Hin und wieder bewegte sich etwas, wie die Reflexion von Fußgängern, die gar nicht existierten - nicht in diesem Venedig, der Stadt, in der Serafin und Merle aufgewachsen waren. Stattdessen gab es Gerüchte, dass in einer anderen Welt ein zweites Venedig existierte, und vielleicht sogar ein Dutzend oder hunderte davon.
    Serafin bröselte trübsinnig Krümel von einem kleinen Laib Brot ins Wasser, aber es kamen keine Fische, um die unverhofften Leckerbissen in Empfang zu nehmen. Seit die Fließende Königin vom Gift der ägyptischen Hohepriester aus dem Wasser der Lagune vertrieben worden war, sah man nur noch selten Fische durch die Kanäle ziehen. Statt ihrer gediehen jetzt Algen in den Gewässern, und nicht allein Serafin hatte das Gefühl, dass es mit jedem Tag mehr wurden. Dunkelgrüne Stränge, formlos und verdreht wie nass gewordene Spinnweben. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht wirklich von einem der großen Meeresarachniden stammten, die noch niemand gesehen hatte, von denen man aber munkelte, dass es sie im Mittelmeer gab, dort, wo das Wasser am tiefsten war, in den Ruinen der Subozeanischen Reiche.
    Serafin fühlte sich hundeelend. Er wusste, dass Merle auf dem Rücken eines steinernen Löwen aus Venedig entkommen war, und bei all seiner Verwirrung war er doch dankbar dafür. Zumindest drohte ihr im Augenblick keine Gefahr durch die Ägypter - vorausgesetzt, sie hatte den Belagerungsring des Imperiums passieren können, ohne von den Sonnenbarken abgefangen zu werden.
    Es war auch nicht allein die bevorstehende Invasion, die ihm Sorgen bereitete. Die Angst vor den Ägyptern saß tief, gewiss, doch auf eine eigenartige Weise, die ihn selbst erschreckte, hatte er sich damit abgefunden. Die Eroberung Venedigs war unausweichlich.
    Nein, etwas anderes nagte an ihm, ließ ihn kaum schlafen und machte ihn tagsüber ruhelos. Sein Magen fühlte sich an wie eine verhärtete Kugel, die nicht zuließ, dass er Nahrung zu sich nahm. Er musste sich zu jedem Bissen zwingen, aber selbst das gelang nicht immer. Die Brotkrumen unter ihm auf dem Wasser waren sein Abendessen.
    Er sorgte sich um Junipa, das Mädchen mit den Spiegelaugen. Und natürlich um Arcimboldo, den alten Zauberspiegelmacher am Kanal der Ausgestoßenen. Arcimboldo war es gewesen, der Junipa und Merle aus dem Waisenhaus geholt und zu Lehrlingen in seiner Werkstatt gemacht hatte. Arcimboldo, der - wie Serafin vor kurzem erfahren hatte - eine Vereinbarung getroffen hatte, Junipa schon bald an Lord Licht, den Herrn der Hölle, auszuliefern.
    Serafin hatte Arcimboldo zur Rede gestellt, und der Zauberspiegelmacher hatte die meisten seiner Fragen beantwortet.
    Arcimboldo machte den Eindruck eines geschlagenen Mannes. Seit Jahren belieferte er im Geheimen Lord Licht mit seinen Zauberspiegeln. Ein ums andere Mal hatte er sich mit Talamar, dem Gesandten Lord Lichts, getroffen, um neue Spiegel zu übergeben. Und als Talamar ihm eines Tages ein besonderes Angebot gemacht hatte, hatte Arcimboldo nach langem Zögern zugestimmt. Er sollte der blinden Junipa das Augenlicht zurückgeben, und zwar mithilfe seiner Zauberspiegel. An sich eine noble Geste, und seither lernte Junipa jeden Tag ein wenig schneller, mit ihrer neuen Sehkraft umzugehen.
    Doch das war nicht alles.
    Lord Licht hatte Arcimboldos Augenmerk nicht aus Nächstenliebe auf die zierliche Junipa gelenkt. Serafin hatte eine Weile nachbohren müssen, bis der Spiegelmacher ihm endlich alles erzählt hatte.
    »Junipa kann mit ihren neuen Augen auch im Dunkeln sehen«, erklärte Arcimboldo bei einem Glas Tee und während der Mond durch ein Dachfenster in die Werkstatt schien. »Das hat Merle dir vielleicht schon erzählt. Aber damit endet es nicht.«
    »Endet?«, fragte Serafin irritiert.
    »Das magische Spiegelglas, durch das ich ihre Augäpfel ersetzt habe, wird ihr irgendwann die Macht geben, in andere Welten zu blicken. Oder besser: durch die Spiegel
    anderer Welten.«
    Nach langem Schweigen fand Serafin endlich wieder Worte. »In solche Welten wie die, die sich um Mitternacht auf einigen Kanälen spiegelt?«
    »Du weißt Bescheid
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