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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Autoren: Kai Meyer
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darauf Leid, doch es war schon zu spät.
    Während der nächsten Stunden schwieg die Königin und zog sich in den hintersten Winkel von Merles Bewusstsein zurück, eingesponnen in einen Kokon ihrer kühlen, fremden, göttlichen Gedanken.
    Sie überquerten das Gebirge ein Stück weiter östlich, ohne erneut auf Gegner zu stoßen.
    Irgendwann, es musste nach Mitternacht sein, sahen sie im grauen Eislicht der Sterne die andere Seite vor sich, und jetzt endlich gönnte sich Vermithrax eine Ruhepause. Er landete auf der Spitze einer unzugänglichen Felsnadel, gerade breit genug, dass er sich hinlegen und Merle von seinem Rücken klettern konnte.
    Ihr tat alles weh. Eine Weile lang bezweifelte sie, überhaupt wieder laufen zu können, ohne dass bei jedem Schritt jeder Knochen, jeder Muskel schmerzte.
    Im Dunkeln hielt sie Ausschau nach Anzeichen von Verfolgern, konnte aber nirgends etwas Verdächtiges entdecken. Nur ein Raubvogel kreiste in der Ferne, ein Falke oder Habicht.
    Aus dem weiten Land am Fuß des Gebirges drangen keine Laute herauf, nicht einmal der Schrei eines Tiers oder das Flattern von Vogelschwingen. Ihr Herz zog sich zusammen, und Beklommenheit überkam sie. Mit beängstigender Gewissheit wurde ihr klar, dass dort unten nichts mehr lebte. Keine Menschen, keine Tiere.
    Sogar die Toten hatten die Ägypter geraubt, um damit ihre Galeeren, Sonnenbarken und Kriegsmaschinen zu bemannen.
    Sie ließ sich am Rand des winzigen Plateaus nieder und starrte gedankenverloren in die Nacht. »Glaubst du, Lord Licht wird uns helfen?« Es war das erste Mal seit Stunden, dass sie wieder das Wort an die Königin richtete. Sie rechnete nicht mit einer Antwort.
    »Ich weiß es nicht. Die Venezianer haben seinem Boten böse mitgespielt.«
    »Aber sie wussten ja nicht, was sie da taten.«
    » Meinst du, dass das einen Unterschied macht?«
    »Nein«, sagte Merle niedergeschlagen. »Nicht wirklich.«
    »Eben.«
    »Immerhin hat Lord Licht angeboten, Venedig im Kampf gegen das Imperium zu unterstützen.«
    »Das war, bevor die Leibgarde seinen Boten getötet hat.
    Außerdem liegt es nicht in der Natur des Menschen, einen Pakt mit der Hölle einzugehen.«
    Merle grinste humorlos. »Da hab ich ganz andere Geschichten gehört. Du weißt wirklich nicht viel über uns Menschen.«
    Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
    Im Jahr 1833 hatte der englische Forscher Professor Burbridge entdeckt, dass die Hölle alles andere als ein Ammenmärchen war. Sie existierte als realer, unterirdischer Ort im Inneren der Erde, und Burbridge hatte eine Reihe von Expeditionen dorthin geleitet. Von der letzten war nur er allein zurückgekehrt. Vieles von dem, was er gesehen und erlebt hatte, war dokumentiert und bis zu Beginn des großen Krieges an den Schulen gelehrt worden. Aber es bestand kein Zweifel, dass dies nur ein Bruchteil seiner tatsächlichen Erkenntnisse war. Den Gerüchten zufolge war der Rest zu grauenvoll, zu entsetzlich, um ihn der Öffentlichkeit preiszugeben. Dafür sprach auch, dass in den Jahren nach Burbridges letzter Expedition niemand mehr den Abstieg gewagt hatte. Erst seit Ausbruch des Krieges waren neue Lebenszeichen von unten heraufgedrungen, die schließlich darin gipfelten, dass Lord Licht, der sagenumwobene Herrscher der Hölle, den Venezianern seine Unterstützung im Kampf gegen den Pharao anbot. Doch der Stadtrat hatte in seiner Arroganz und Selbstzufriedenheit jede Hilfe abgelehnt. Merle selbst war Zeuge geworden, wie der letzte Bote Lord Lichts auf der Piazza San Marco ermordet worden war.
    Und nun waren Merle, die Fließende Königin und Vermithrax unterwegs, um Lord Licht persönlich um Hilfe zu bitten, im Namen des Volkes von Venedig, nicht seiner Ratsherren. Dabei war es fraglich, ob sie - selbst wenn sie Erfolg mit ihrer Mission hatten - noch rechtzeitig kommen würden. Und wer sagte überhaupt, dass Lord Licht mit ihnen nicht genauso verfahren würde, wie man mit seinem Boten in Venedig umgegangen war?
    Das Schlimmste aber war, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als auf Burbridges Spuren in den Abgrund zu steigen. Und keiner von ihnen, nicht einmal die Königin, ahnte, was sie dort unten finden würden.
    Merle öffnete die Augen und blickte hinüber zum schlafenden Vermithrax. Sie war selbst hundemüde, aber noch war sie zu aufgeregt, um Ruhe finden zu können.
    »Warum hilft er uns?«, flüsterte sie nachdenklich. »Ich meine, du bist die Fließende Königin und irgendwie ein Teil von Venedig - oder
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