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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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vergingen Monate.
    Meine Mutter bekam von alledem nichts mit. Nur ein Mal, als ich erneut mein Spiegelbild betrachtete, schlug ich voller Verzweiflung nach meinem Feuermal. Es war eine Entgleisung, ebenso unbedacht wie töricht, die schlimme Folgen nach sich zog: Der Spiegel wies ein paar Sprünge auf und meine Hand eine blutende Schnittwunde. Als meine Mutter die Bescherung sah und sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, machte sie mir bittere Vorwürfe, denn sie dachte, ich hätte nicht aufgepasst, wäre ausgerutscht und gegen das Glas gefallen.
    Ich ließ sie in dem Glauben, wenn auch mit schlechtem Gewissen, und beobachtete interessiert, wie sie mir einen Verband anlegte. Sie schimpfte und haderte weiter mit mir, und weil ich sie ablenken wollte, stellte ich ihr die Frage, die ich schon häufiger an sie gerichtet hatte: »Wo ist mein Vater, Mamma?«
    »Dein Vater ist tot.« Die Antwort kannte ich bereits. Diesmal jedoch wollte ich mich nicht damit zufriedengeben. »Wenn mein Vater tot ist, muss er mal gelebt haben. Wo war er denn da, Mamma?«
    »Das ist eine lange Geschichte, und sie hat kein glückliches Ende.«
    »Bitte erzähle sie mir.«
    »Vielleicht später.«
    »Bitte, Mamma!«
    »Nein.«
    Wenn meine Mutter auf diese Art nein sagte, wusste ich, dass jedes weitere Betteln zwecklos war. Deshalb zuckte ich mit den Schultern und gab auf.
    Immerhin, von dem kaputten Spiegel hatte ich sie abgelenkt.
     
    Wenn meine Mutter wieder einmal die Nacht durchgearbeitet hatte und sich am frühen Morgen nach Bologna aufmachte, um das Ergebnis ihrer Schneiderkunst abzuliefern, ließ sie – im Gegensatz zu früher – stets die Tür zu ihrem Werkstattzimmer offen, vermutlich weil sie dachte, ich hätte mich an meinen Anblick im Spiegel gewöhnt. Welch ein Irrtum! Ich sollte mich nie daran gewöhnen können, aber das ahnten damals weder ich noch sie.
    Am späten Nachmittag kam sie meist wieder zurück und erkundigte sich, ob ich die Schulaufgaben, die sie mir am Tag zuvor gestellt hatte, erledigt hätte. Es war eine ungewöhnliche Zeit, um über Schulaufgaben zu reden, aber dank dieser Regelung war es ihr gelungen, ihr Versprechen einzulösen und mir Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen.
    Das Lernen fiel mir leicht, so leicht, dass ich jedes Mal schnell mit meinen Aufgaben fertig war und danach nicht wusste, was ich mit dem Rest des Tages anfangen sollte.
    So begann ich zu malen. Ich saß in der Werkstatt und malte Tiere und Pflanzen, den Mond und die Sterne. Ich malte Häuser und Türme und alles Mögliche, nur Menschen malte ich nie. Da ich keine bunten Farben hatte, benutzte ich nur Rötel, aber meine Mutter meinte, meine Bilder seien derart lebendig, dass man die Farben auch so sehen könne.
    Ich malte weiter und versank mehr und mehr in einer Welt der Formen und Perspektiven, wurde immer scheuer und verschlossener. Ich sprach kaum noch. Wenn meine Mutter mich etwas fragte, antwortete ich einsilbig oder gar nicht. Nachts machte ich in mein Bett und wurde am Morgen dafür von ihr gescholten – aber ich hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
    Natürlich bemerkte sie meine Veränderung, und sie ahnte sicher auch, dass mein Verhalten mit meiner Einsamkeit zu tun hatte. Trotzdem fragte sie mich ein ums andere Mal: »Was ist mit dir, Kind?« Und ein ums andere Mal antwortete ich: »Nichts.«
    Drei mehr oder weniger ereignislose Jahre gingen ins Land, ich war fast zehn Jahre alt, als meine Mutter die Schulausbildung für beendet erklärte; sie könne mir nichts mehr beibringen, sagte sie. In der Tat vermochte ich mittlerweile recht passabel zu schreiben, zu lesen und zu rechnen.
    Doch das war mir gleich. Mir war alles gleich. Und so hatte ich auch nichts dagegen einzuwenden, als meine Mutter eines Tages beschloss, mir das Schneiderhandwerk beizubringen. »Du musst etwas lernen, meine Kleine«, sagte sie und begann noch in der gleichen Stunde, mir die Unterschiede der einzelnen Nähte zu erklären. Ich nickte gelangweilt und sagte nichts, denn die Beschaffenheit der Nähte kannte ich seit langem. Ich hatte oft genug gesehen, wie meine Mutter sie setzte.
    In der Folgezeit lernte ich die Schneiderei von Grund auf. Meine Mutter sagte, ich hätte eine natürliche Begabung, geschickte Hände und ein gutes Auge. Aber die Tätigkeit machte mir wenig Freude, obwohl sie mir kaum Schwierigkeiten bereitete. Ich saß an einem zweiten Tisch, den meine Mutter in die Werkstatt gestellt hatte, und arbeitete ihr zu. Ich setzte am
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