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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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als Schneiderin für die vornehmen Damen Bolognas arbeitete. Doch Signora Donace wirkte an jenem Morgen alles andere als vornehm, denn sie schrie wie das Weib eines Kesselflickers, während sie ein Kleid in die Höhe hielt und heftig an dessen Ärmeln zerrte. Das Kleid kam mir riesengroß vor, so groß wie eine Wolke am Himmel, nur dass es nicht weiß war, sondern feuerrot. Es war gänzlich aus Seidenorganza gefertigt, mit hochgesetzter Taille und tiefem Dekolleté. Das Mieder und die Oberärmel zierten filigrane Goldgitter, und an den Seiten wurde es mit farblich zu den Gittern passenden Schnürungen geschlossen.
    Aber all das wusste ich damals noch nicht. Ich sah nur die gewaltige rote Wolke, während die Worte der fremden Frau wie ein Wasserfall auf meine Mutter einstürzten: Sie habe keine festgenähten, sondern abnehm- und austauschbare Ärmel gewollt, zeterte Signora Donace, Ärmel, die resedagelb seien, Ärmel, die im unteren Bereich weiter seien, bauschiger, großzügiger, Ärmel, die überdies Schlitze aufwiesen, tiefe Schlitze, wie es die Mode vorschriebe, ob die hochgelobte Signora Castagnolo noch nie etwas von der neuesten Mode gehört habe, mit diesem Fetzen könne sie sich als Gattin eines Patriziers niemals auf der Piazza Maggiore sehen lassen, sie würde sich vor ihren Freundinnen unsterblich blamieren und so weiter und so weiter.
    Je lauter Signora Donace wurde, desto leiser sprach meine Mutter. Sie wandte immer wieder ein, sie habe nur angefertigt, was die gnädige Frau bei ihr in Auftrag gegeben hätte. Genau das habe sie getan, mehr könne sie doch nicht tun.
    Die Signora schimpfte weiter und herrschte meine Mutter an, was sie sich einbilde, ob sie eine Dame der ersten Gesellschaft Bolognas Lügen strafen wolle, das ginge nun wirklich zu weit. Das müsse sie sich nicht bieten lassen. Und sie riss die rote Wolke hoch und schleuderte sie wütend von sich.
    Ich hatte mich bis dahin hinter den Stoffballen neben dem Schneidertisch aufgehalten und dort mit meinen Puppen gespielt, doch durch den immer lauter werdenden Streit bekam ich Angst und wollte fortlaufen. Ich kam nicht weit. Denn die rote Wolke flog auf mich zu, füllte plötzlich das ganze Zimmer aus und begrub mich unter sich. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich strampelte. Ich verhedderte mich, konnte nicht vor und zurück. Panik stieg in mir hoch, ich begann aus Leibeskräften zu brüllen.
    »Wer schreit da so?«, begehrte Signora Donace zu wissen. »Ist das ein Kind?«
    »Ja, Signora«, antwortete meine Mutter, »es ist meine Tochter.«
    »Ihr solltet ihr das Schreien abgewöhnen. Es zeugt von schlechtem Benehmen!«
    »Ja«, sagte meine Mutter tonlos.
    Signora Donace entfernte sich rasch.
    Sie kam nie wieder.
     
    Einige Jahre später, ich erinnere mich noch genau, bat ich meine Mutter, sie zu einer Kundin in die Stadt begleiten zu dürfen. Wir wohnten damals in einem einfachen Haus am Ende der Strada San Felice, im äußersten Westen, wo das Stadtbild noch weitgehend von Feldern und Wiesen geprägt war. Die Menschen, die dort lebten, hatten wenig zu beißen, und auch meine Mutter fragte sich oftmals am Morgen, was sie am Abend kochen sollte. Doch das wusste ich natürlich nicht, meine Sorgen waren ganz anderer Art. Mich reizte die große Stadt, deren Dächer und Türme täglich aus der Ferne herübergrüßten und deren Geräusche in meinen Ohren wie das Summen von tausend Bienen klangen.
    »Kann ich mit, Mamma?«, fragte ich.
    »Nein, Carla.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du hierbleibst.«
    »Bitte, Mamma! Ich war noch nie mit, immer lässt du mich allein.«
    »Glaub mir, es ist besser so.«
    »Nur dieses Mal, bitte!« Ich begann zu weinen. Die Aussicht, wieder viele Stunden auf meine Mutter warten zu müssen, bedrückte mich. Es gab keine Menschenseele, die mir während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten konnte, denn ich hatte weder Geschwister noch Verwandte. »Bitte, bitte!«
    Meiner Mutter fiel es schwer, mir meinen Wunsch abzuschlagen, das sah ich, deshalb weinte ich noch lauter, doch der Moment ihres Zögerns war schon vorbei. »Sei vernünftig«, sagte sie, »ich bin bald zurück, und wenn Signora Vascellini heute ihre Rechnung bezahlt, kaufe ich ein Hühnchen auf dem Markt und koche uns eine Suppe.«
    »Nein!« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, nein, nein!« Aber auch dieser Protest half nichts. Meine Mutter seufzte nur und wandte sich ab. Ich sah, wie sie den großen Weidenkorb nahm, in dem sie
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