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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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mich. »Was ist das für eine Kreatur?«
    Meine Mutter rang um Fassung, bevor sie mühsam die Antwort hervorbrachte: »Verzeiht, Signora Vascellini, das ist … meine Tochter.«
    Signora Vascellini bekreuzigte sich. »Der Allmächtige schütze uns. Sie trägt eine
voglia di peccato!«
    »Glaubt mir, Signora, das hat nichts zu bedeuten, wirklich nicht.«
    »Woher wollt Ihr das wissen? Was sagt der Herr Pfarrer Eurer Gemeinde dazu? Weiß die heilige Kirche überhaupt davon?«
    Meine Mutter streckte sich. »Das Kind ist vor Gott und der Welt in San Pietro getauft.«
    »Verlasst sofort mein Haus«
    »Aber Signora,
gentilissima
Signora! Bitte, habt ein Einsehen! Wir gehen sofort, nur, äh, da ist noch die offene Rechnung für das taubenblaue Brokatkleid. Ich brachte es Euch schon vor zwei Wochen. Könntet Ihr nicht wenigstens einen Teil …?«
    »Darüber reden wir ein anderes Mal. Die Kreatur hat mich so erschreckt, dass ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig bin.« Signora Vascellini blickte in die Runde. »Oder ergeht es euch anders, meine Lieben?«
    Die Damen am Tisch verneinten einstimmig.
    »Dann geht jetzt.«
    Meine Mutter sank in sich zusammen. »Jawohl, Signora«, murmelte sie, »aber das Kind kann nichts dafür, das arme Kind kann nichts dafür …« Sie nahm ihren Weidenkorb, in dem die Schaustücke lagen, von denen sie so gern eines veräußert hätte, und ergriff meine Hand. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um und fragte leise: »Darf ich nächster Tage noch einmal wiederkommen, Signora?«
    »Ja, ja, meinetwegen.« Für Signora Vascellini war das Gespräch beendet. Doch wenige Schritte später rief sie meiner Mutter nach: »Aber kommt ohne das Kind!«
     
    Der Rückweg verlief schweigend. Meine Mutter schaute weder nach links noch nach rechts, während sie immer schneller ging und ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich spürte, wie sehr sie gedemütigt worden war, und ich spürte auch, dass die Demütigung etwas mit mir zu tun hatte. »Mamma, was ist eine Kreatur?«, fragte ich.
    Meine Mutter presste die Lippen aufeinander und eilte weiter.
    Ich wiederholte meine Frage.
    »Das brauchst du nicht zu wissen, dafür bist du noch zu jung.«
    »Immer bin ich für alles zu jung.«
    »So ist das nun mal, wenn man Kind ist.«
    Je schroffer die Antworten meiner Mutter ausfielen, desto unwohler fühlte ich mich in meiner Haut. Gewiss, ich hatte nicht gehorcht und war ihr heimlich zu der dickbusigen Signora Vascellini in den Palazzo gefolgt, was sicher falsch gewesen war. Aber dass die Signora und ihre Freundinnen so heftig reagiert hatten, musste einen anderen Grund haben. Einen, den ich nicht kannte. Damals wusste ich noch nichts von dem Aberwitz, der in den Köpfen vieler herumgeisterte, denn ich kannte die Menschen nicht. Ich wusste nichts von ihrer Engstirnigkeit, ihrer Eitelkeit, ihrer Bosheit, ich wusste nicht, dass ihr Herz härter als Stein sein konnte und ihre Seele schwärzer als der Tod. Manches Mal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte das alles niemals erfahren, aber diese Überlegung ist lächerlich und schwach. So schwach, wie ich mich an jenem Tage fühlte, als ich mit meiner Mutter auf dem Nachhauseweg war.
    Ich fing an zu weinen: »Und was ist eine
voglia di … voglia di …?
«
    Meine Mutter blieb stehen und wandte mir ihr Gesicht zu. »Hör auf zu weinen, Carla, bitte.«
    »Aber die Frau war so hässlich zu uns.«
    »Kümmere dich einfach nicht um das, was Signora Vascellini gesagt hat.«
    »Ja, Mamma. Was ist eine
voglia di …?
«
    »Was eine
voglia di peccato
ist, wirst du noch früh genug erfahren. Viel zu früh, fürchte ich. Merke dir lieber ein anderes Wort: Es lautet
›abiuro!‹
«
    »Abiuro!«,
wiederholte ich folgsam. »Was heißt denn das?«
    Der Gesichtsausdruck meiner Mutter bekam etwas Feierliches. »Es heißt: Ich schwöre ab.«
    »Klingt komisch.«
    »Die Bedeutung erkläre ich dir ein anderes Mal.
Abiuro
ist vielleicht ein sehr wichtiges Wort für dich.«
    »Ja, Mamma.«
    Den Rest des Weges legten wir wieder wortlos zurück. Doch kurz bevor wir ans Ende der Strada San Felice kamen, wurde unser Schweigen jäh unterbrochen. Ein paar freche Nachbarskinder hatten sich im nahen Gebüsch versteckt.
»Strega!«,
brüllten sie laut, und:
»Maliarda!«
    Die Schelte galt mir. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie mich als Hexe und Zauberin beschimpft hatten. Sie waren laut, dreckig und aggressiv. Eine Begegnung mit ihnen hatte ich stets vermieden und war
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