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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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Anfang nur die inneren Nähte der Kleider, die sie anfertigte, später, als meine Stiche gerader und gleichmäßiger wurden, durfte ich auch die äußeren, die für jedermann sichtbaren Nähte setzen.
    Meine Mutter lobte mich für meine Arbeit. Sie sagte: »Du machst gute Fortschritte, meine Kleine.« Und: »Wenn du so weitermachst, wird es bald nichts mehr geben, was ich dir beibringen kann, genau wie bei den Schuldingen.«
    Ich antwortete: »Ich bin nicht klein.«
    Sie lachte. »Nun sei nicht so verstockt. Du und ich, wir sind zusammen, das ist die Hauptsache, und das wolltest du doch immer, nicht wahr?«
    »Ja, Mamma«, sagte ich.
     
    Im nächsten Jahr liefen die Geschäfte meiner Mutter schlechter. Nicht, weil die reichen Damen von Bologna sich weniger leisteten, sondern weil in unserer Nähe drei Häuser fertiggestellt worden waren, in die ein paar kinderreiche Familien einzogen. Die neuen Nachbarsfrauen hatten bald herausgefunden, dass meine Mutter gute Arbeit leistete, und sie bestellten bei ihr ein paar einfache Kleider. Meine Mutter hätte die Aufträge am liebsten abgelehnt, aber weil die Frauen Nachbarinnen waren, mit denen sie ein gutes Verhältnis haben wollte, musste sie die Arbeiten annehmen – zu Preisen, die deutlich unter denen lagen, die sie von den reichen Bologneser Patrizierinnen verlangen konnte.
    Mir jedoch war das recht. Es gab mir die Möglichkeit, andere Menschen zu sehen und zu beobachten.
    Die Frauen waren einfach, aber herzlich, vor allem aber ohne Dünkel. Eine von ihnen war die Mutter eines Jungen, den das Schicksal mit einer Hasenscharte geschlagen hatte. Sie war es, die als Erste auf mich zuging und zu mir sagte: »Du bist Carla, nicht wahr? Ich bin Mamma Rosa. Sag einfach Rosa zu mir, dann plaudert es sich netter.« Und während sie das sagte, schaute sie mir völlig unbefangen ins Gesicht; sie blickte nicht krampfhaft an meinem Feuermal vorbei, und sie starrte auch nicht wie gebannt darauf, nein, der Anblick schien für sie völlig normal zu sein. Ich mochte sie von Anfang an.
    Rosa wurde meine erste Kundin. Ich schneiderte ihr ein Kittelkleid aus gestrichener Wolle für die tägliche Arbeit. Das Kleid hatte halblange, eng anliegende Ärmel und eine leicht zu lösende Schnürung am Dekolleté, damit man es nach der Arbeit einfach über den Kopf ziehen konnte, um sich seiner zu entledigen. Die Farbe war grau.
    »Keine schöne Farbe«, erklärte Rosa lachend, »aber praktisch! Da sieht man die Flecken nicht so. Du wirst noch sehen, Carla, manchmal ist es im Leben wichtiger, dass Dinge praktisch sind, nicht schön.« Sie hielt inne und fuhr ernster werdend fort: »Und du wirst sehen, dass teure Kleidung nicht mit Verstand gleichzusetzen ist.«
    »Das habe ich schon gemerkt«, sagte ich und dachte an Signora Vascellini und ihre Freundinnen.
    »Va bene«,
meinte Rosa und strich mir sanft über mein Feuermal.
    Es war das erste Mal, das ich jemandem diese Berührung erlaubte.
     
    Vier Wochen später zog Rosa mit ihren Kindern wieder aus. Ihr Mann, ein
gargiolaro,
wie man die Seilmachergesellen in Bologna nennt, hatte einen Nervenschlag erlitten und war gelähmt. Da er nicht mehr arbeiten konnte, musste sie für sich und ihre Kinder eine billigere Bleibe suchen.
    Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Rosa ist weg«, sagte ich zu meiner Mutter am Abend. »Sie kann das Haus allein nicht halten.«
    »Oh, das tut mir leid«, sagte meine Mutter. »Rosa war eine nette Frau. Aber jeder muss sehen, wie er zurechtkommt, und vielleicht ist es ja ganz gut, dass sie fort ist. Jetzt kannst du mir wieder mehr bei den teuren Kleidern helfen. Alles im Leben hat seine zwei Seiten, man muss die Dinge nur richtig sehen.«
    »Wenn das so ist«, sagte ich, »will ich die Dinge nicht richtig sehen.«
    »Komm, sei nicht so widerborstig. Hast du für uns schon etwas zum Abendessen vorbereitet?«
    »Nein«, sagte ich, »ich habe keinen Hunger.«
     
    In der Folgezeit blickte ich dutzendmal am Tag aus dem Fenster, immer in der Hoffnung, Rosa würde vorbeikommen, mich anlachen und mir sagen, alles wäre nur ein Spuk gewesen. Doch natürlich war es nicht so. Ich senkte den Blick wieder auf meine Schneiderarbeit und setzte Stich um Stich, während meine Mutter mit ihrem großen Weidenkorb in Bologna war, um Auftragsarbeiten entgegenzunehmen oder fertige Kleider abzuliefern.
    Die Arbeit, die sie mir gab, missfiel mir immer mehr. Ich wünschte mir, selbst einen der wichtigen Aufträge ausführen zu können. Ich
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