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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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Augenblick.« Er verschwand in der Höhle und kam mit meiner goldenen Venusmaske zurück. Er legte sie auf den Stein, der ihm als Werkzeugablage diente, und sagte: »Deine Hände zittern wieder. Lege sie auf die Maske und warte, was geschieht.«
    »Was bezweckst du damit?«
    »Die Maske hatte immer eine beruhigende Wirkung auf dich, versuche es.«
    Ich legte die Hände auf die Maske und spürte wie immer die Kraft, die von ihr auf mich überging. Täuschte ich mich, oder zitterten meine Hände tatsächlich weniger?
    »Die Maske wirkt, ich wusste es.« Latifs Stimme klang froh. »Immer, wenn deine Hände zittern, legst du sie ab jetzt auf die Maske.«
    Ganz so einfach wird es kaum sein, wollte ich sagen, aber ich schwieg, denn ich sah, dass Latif sich über seinen Einfall freute, und diese Freude wollte ich nicht trüben.
    Ob es an der Maske lag oder an den warmen Temperaturen im Frühling und Sommer, weiß ich nicht, in jedem Fall ging es mir bis zum Ende des Jahres etwas besser. Zeitweise glaubte ich sogar, ich hätte eine falsche Diagnose gestellt, aber das waren natürlich Träumereien. Die Zitter- und Lähmungsanfälle traten nach wie vor auf, mit der Zeit sogar wieder stärker als zuvor.
    Kurz vor dem Weihnachtsfest überlegte ich lange, was ich Latif schenken könnte. Er war so gut zu mir, und ich wollte ihm unbedingt eine Freude machen. Aber was konnte ich tun? Ich besaß zwar einen Streifen burgunderroter Seide, die Tasco mir irgendwann überlassen hatte, aber der Stoff war sehr schmal und damit ungeeignet für die Anfertigung eines Kleidungsstücks. Doch dann fiel mir auf, dass Latifs geliebter Gebetsteppich an den Seiten ziemlich ausgefranst war – eine Folge der täglichen fünfmaligen Benutzung.
    Ich könnte die Ränder mit dem Stoff umsäumen!, dachte ich. Es wird schwierig für mich werden, die Nadel zu führen, aber ich kann es schaffen. Die Frage ist nur, wann ich es tun soll. Alle paar Stunden benutzt Latif den Teppich, und ich brauche mindestens einen halben Tag für die Arbeit.
    Der Zufall kam mir zu Hilfe. Einen Tag vor dem heiligen Abend musste Latif ins Tal, um Tasco zu treffen, denn es war ein schlechtes Bucheckern-Jahr gewesen, und unser Lampenöl ging zur Neige. Ich wusste, er würde für viele Stunden fort sein, und ich hoffte, die Zeit würde reichen.
    Und sie reichte tatsächlich. Der Rand des Teppichs wurde wieder schön und glatt, mit einem burgunderroten Saum. Zwar wäre mir die Arbeit in früherer Zeit noch besser gelungen, aber ich gab mich damit zufrieden. Ich ging hinüber in Latifs Höhle und legte den geliebten Kelim wieder an seinen Platz. Gespannt wartete ich, ob er bei seinem nächsten Gebet die Veränderung bemerken würde.
    »Gelobt sei Allah!«, hörte ich ihn kurz nach seiner Rückkehr rufen. »Ein Wunder ist geschehen!« Schnelle Schritte näherten sich. »Maria?«
    »Ja?« Ich tat, als sei ich sehr beschäftigt.
    »Du hast meinen Teppich ausgebessert!«
    »Ach so, ja«, sagte ich. »Es schien mir nötig. Ich weiß doch, wie sehr du an dem Ding hängst.«
    »Du hast mir eine große Freude gemacht, danke!« Er strahlte über das ganze Gesicht.
    Seine Freude steckte mich an. Ich hatte gehofft, dass er so reagieren würde, aber ich war mir nicht sicher gewesen. »Wenn du glücklich bist, bin ich es auch«, sagte ich.
    »Ja, Herrin, äh, ich meine, Maria.«
    »Weißt du was, wir sollten schon jetzt Weihnachten feiern, auch wenn es eigentlich erst morgen ist.«
    »Einverstanden. Ich werde Allah, den Allesverstehenden, den Allesverzeihenden, auf meinem neuen Teppich bitten, an diesem Fest der Ungläubigen teilnehmen zu dürfen – so wie ich es in der Vergangenheit schon dutzendmal getan habe.«
    »Das klang fast schon wieder wie mein alter Latif.«
    »Tat es das?«
    »Ja, das tat es.«
     
    Das Jahr 1599 kam, und das Verhältnis zwischen Latif und mir normalisierte sich. Es war wieder so wie früher, nur mit dem Unterschied, dass Latif mir zwar diente, aber nicht mehr mein Diener war. Ein Unterschied, den er von Zeit zu Zeit betonte, wodurch ich den Eindruck gewann, er wäre es vielleicht doch gern wieder. Aber die alten Zeiten waren vorbei, wir lebten in der Gegenwart, und die war abwechslungsreich genug. Immer wieder geschahen große und kleine wundersame Dinge in der Natur, die zu beobachten mir viel Freude bereitete. Stundenlang konnte ich dem Kreisen der Adler und der Bussarde über den Gipfeln zusehen, dem Aufspringen einer Blütenknospe inmitten der Hochwiese oder der
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