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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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oder das Schicksal, es waren die Menschen gewesen. Die Menschen, die ihm etwas zu essen gegeben, und die Menschen, die ihn getötet hatten.
    Ich erinnerte mich nicht an die Einzelheiten, aber ich wachte mit dieser Anklage Rickis auf. Ich wusste auch, dass ich aufgewacht war, weil ich mich gegen die Anklage gewehrt hatte. Ich war nicht schuldig an seinem Tod, auch nicht Eckhard oder Brunhilde oder die Kelms, sondern schuld war ein wilder Mann, der mit einer Roten Armee gekommen war. Tante Lieschen hatte einmal gesagt: Ein Mensch kann handeln, wie er will, aber er kann nicht wollen, wie er will. Konnte der Mensch, der Ricki gefoltert und getötet hatte, nichts dafür, dass er das wollte? Und was wollte er überhaupt? Fressen und saufen? Foltern, vergewaltigen und töten? Waren das seine größten Wünsche? Hatte er sie immer noch? Würde er heute anderen die Sachen wegnehmen, die Uhren, die Stiefel, den Schmuck? Wie viele gab es wie ihn?
    Wollten sie gar nicht lieb zu den anderen sein, wie es Mami zu uns war? Gab es solche auch bei uns?
    War Papas bewunderter Mann mit den blauen Augen »Führer« geworden, damit er das alles bekam, was er haben wollte? Gehorchten und bewunderten die Menschen einen, der alles bekam? Den Kaiser von Russland, den König von Mexiko? Der für nichts zahlen musste und für nichts bestraft wurde?
    Ich hörte eine Eule schreien und freute mich über die Tiere, die noch am Leben waren. Dazu gehörten auch die Mäuse, die auf dem Boden vor unserer Kammer herum knusperten. Gut, dass sie nicht auf dem Hof waren, wo die Eule oder die Katzen sie schnappen konnten. Mit den Tieren war es wie mit den Menschen: Sie mussten aufpassen, dass sie nicht von einem Hungrigen getötet wurden. Bei den Tieren war es Fresslust, bei den Menschen die Wutlust.
    Ich hörte die tiefen Atemzüge meiner Mutter. Ich wandte den Kopf. Es war zu dunkel, ich konnte nicht sehen, ob sie auf der Seite schlief oder auf dem Rücken. Es tat mir leid, dass ich das nicht wusste. Warum hatte ich nie darauf geachtet? Von mir wusste ich es: Ich schlief auf der Seite, die Beine angezogen.
    Als ich morgens in den Kuhstall kam, empfing mich Oskar Franke. Ich freute mich, denn Oskar war ein tüchtiger Schweizer, der nicht nur der beste Melker war, sondern auch sonst etwas von Kühen verstand. Ich fragte ihn, ob die anderen nun auch kommen würden, denn sie waren alle zur gleichen Zeit eingezogen worden, aber er schüttelte den Kopf. »Dietrich Wulf und Robert Kirchberg sind gefallen. Nur Erich Schlodauer könnte noch am Leben sein. Aber was erwartet ihn hier?«
    Ja, was würde ihn erwarten?
    Ehe ich darüber nachdenken konnte, wollte Oskar Franke wissen, wie es mir ergangen sei, und ich berichtete ihm von dem schrecklichen Schicksal Elsbeth Schlodauers und auch wie Eule und Bruno ums Leben gekommen waren, aber von seiner eigenen Mutter Hedwig und seiner Frau Gertrud, die von den Russen so schlimm behandelt worden waren, dass Hedwig wenig später starb, sagte ich nichts. Vielleicht hatten ihm das schon andere berichtet.
    »Und Emil Riemer haben sie nach Russland verschleppt?«
    Ich nickte. Es war eine von Rübezahls ersten Handlungen gewesen, Männer auszusuchen, die auf einen Transport nach Russland kamen.
    Ich wollte wissen, warum er nach Hause durfte, wenn der Krieg noch nicht zu Ende war. Er lachte böse und sagte: »Noch nicht beendet? Ich komme aus Stettin, da ist gerade die zweite sowjetische Armee eingezogen. Am nächsten Tag habe ich gehört, dass Heinrich Himmler den Westmächten die Kapitulation angeboten hat, und da meinst du, der Krieg ist nicht zu Ende?«
    Als wir abends vor dem Einschlafen noch bei Mama im Bett lagen, fragte ich sie nach dem Ende.
    Aber auch von ihr war nichts Eindeutiges zu hören. Da es auf dem Gut kein Radio mehr gab und sie außerdem den ganzen Tag auf dem Feld arbeitete, wusste sie nicht, was in der Welt vor sich ging und was wir alle zu erwarten hätten.
    In der Nacht hörte ich die Mäuse unter und über meinem Bett. Sie kamen jede Nacht, obwohl sie hungrig wieder abziehen mussten, denn hier fanden sie nichts.
    Anders als in Naugard produzierten meine Träume hier meistens die Sequenzen eines einzigen Märchens, das Tante Kläre mir kurz vor unserer Flucht vorgelesen hatte – Hänsel und Gretel. Es war nicht die Geschichte von Hänsel und Gretel, sondern immer nur die Bilder, wie sie in den Backofen sollten und sich wehrten. Sie wehrten sich, weil sie das schrille Jammern im Ofen nicht ertragen
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