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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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ihrer typischen Dummheiten, die mich ganz wütend machte und »mich auf die Palme brachte«, hätte Papa gesagt. Wenn unsere Mutter tot wäre, würde er natürlich hier eindringen, uns herausholen und uns irgendwo in Obhut geben. Für mich war das klar, mir stand das ohne jede Überlegung vor Augen. Also sagte ich: »Nein!« Das war an Dagi gerichtet, und zu ihm sagte ich: »Sie ist auf dem Feld.« Denn wäre sie auf dem Feld, müsste er dorthin, um sie zu holen. Das war für mich logisch.
    Natürlich widersprach mir Dagi, wie konnte es anders sein, und obwohl ich sie einmal, zweimal und mehrmals korrigierte, blieb sie bei ihrer Behauptung. »Meine Mutter ist tot.« Sie sagte es wie ein Kasperle immer wieder. Diese verstockte Art brachte mich so in Rage, dass ich alles um mich herum vergaß. Doch statt Angst zu haben, dass ich ihr eine kleben würde, blieb sie starrsinnig beim Tod unserer Mutter. Der Streit wurde immer wütender, sodass ich sie so laut anschnauzte, wie ich konnte, und sie mir daraufhin mit ihren Fingernägeln ins Gesicht kratzte und der Russe in die Luft schoss.
    Der Knall erschreckte uns, und wir starrten ihn verwundert an. In dem Moment begriff ich, dass der Mantel, den er anhatte, kein russischer Offiziersmantel war, sondern Hottes Fliegermantel. Ich konnte es nicht glauben. Ich sprang auf, kletterte auf das Fensterbrett, zog die Decke weg, die als Kälteschutz vor dem unteren Teil des Fensters hing, und sah es nun ganz deutlich: Es war Hottes Mantel!
    Ich war vollkommen davon überzeugt, dass der Russe ihn nicht tragen und nicht behalten durfte. Daher öffnete ich das Fenster, packte den Mantel am unteren Saum und begann daran zu zerren. Weil er in der einen Hand noch seinen Karabiner hielt, aus dem er geschossen hatte, geriet er aus dem Gleichgewicht und, um nicht zu stürzen, musste er springen. Er sprang in den Hof.
    Voller Wut und ganz erfüllt von meinem Recht schrie ich hinter ihm her: »Gib den Mantel her! Der gehört dir nicht! Der gehört meinem Freund! Gib ihn her, du Dieb!«
    Er hörte nicht auf mich, sondern ging davon.
    Nach dem Auftritt dieses aggressiven Feindes war uns allen klar, dass wir unser Zimmer verlassen mussten. Meine Mutter hatte das ganze Theater haarklein miterlebt und war leichenblass, als sie unter dem Bett hervorkroch. Ihre ersten Worte waren: »Wir müssen hier weg.«
    Ich schlug vor, nach oben unter das Dach in eine der Mädchenkammern zu ziehen, wo es genügend Betten gab und ich nicht mit Dagi in einem schlafen musste. Meine Mutter stimmte zu.
    In der Kammer, die wir bezogen, wohnten früher acht Mädchen, die alle der Hausverwalterin Gerda Wendt unterstanden und im Haushalt und Garten geholfen hatten. Wir besetzten die vier doppelstöckigen Betten, die sich an den beiden Längswänden gegenüber standen. Meine Mutter schlief rechts unten, ich links unten und hinter mir nahe am Fenster, auch unten, schlief Dagi. Die Betten von meiner Mutter und mir waren der Tür näher, weil wir von da besser hören könnten, wenn jemand die Holzstiege heraufkäme.
    Schon gleich in der ersten Nacht achtete ich darauf, dass die Tür zu unserer Kammer weit genug aufstand, sodass wir einen Eindringling auch hören würden, wenn er sich auf den knarrenden Stufen näherte. Sollte das der Fall sein, so würden wir uns gegenseitig wecken, damit meine Mutter sich noch schnell verstecken könnte. Dazu hatten wir eine Truhe leer geräumt, in die sie hineinpasste. Damit es schnell ging, hatten wir das ein paar Mal geübt. Dagi und mir sollte dann die Abwehr des Eindringlings überlassen sein. Zwar hatte der nächtliche Radau abgenommen, weil von dem Militärtross, der beständig von Osten nach Westen über die Chaussee rollte, nur noch selten Truppenteile zu uns kamen, aber verlassen konnte man sich darauf nicht.
    Eine zusätzliche Sicherungsmaßnahme war es, nur wenige von unserem Umzug wissen zu lassen. Dennoch konnte ich in der ersten Nacht nicht einschlafen, weil ich das Gesicht von Ricki vor mir sah. Er lächelte mich an, plinkerte mit den Augen, als blendete ihn die Sonne und flüsterte mir etwas zu, das ich nicht Wort für Wort verstand, mit dem er aber anscheinend alle Menschen in meinem Traum beschuldigte, nicht achtsam mit ihm umgegangen zu sein. Er war von Menschen gezeugt, geboren und ernährt worden und wurde von ihnen gefoltert und getötet. Sein ganzes Leben lang war er von anderen abhängig gewesen, sie waren sein Schicksal. Es waren nicht der Krieg oder die Hungersnot
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