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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra
Autoren: Guido Dieckmann
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selben Zeit verteilten sich Bogenschützen auf den Zinnen der Wehranlagen. Sie hieben die Handvoll Verteidiger nieder und richteten ihre Armbrüste dann gegen die Pforten in der Mauer, an denen die schreienden Menschen rüttelten. Ein Hagel von Pfeilen zerschnitt surrend Luft und Regen.
    Sie ließen keinen der Fliehenden entkommen.
    ***
    Der Regen hatte nachgelassen, vereinzelte Tropfen spülten das dunkelrote Blut vom Pflaster des Platzes. Die beiden Männer konnten in ihrem Versteck kaum glauben, daß sie dem Massaker entronnen waren. Die plötzliche Stille tat ihnen in den Ohren weh. Selbst das Glockengeläut hatte aufgehört.
    »Wir müssen fort, Herr!« Der Junge hatte eine nur halb heruntergebrannte Kerze auf einem der Balken des Vordachs entdeckt und streckte die Hand danach aus. Sie zitterte leicht, als er das Wachs vom Balken brach. »Wenn wir hierbleiben, erwischen sie uns doch noch!«
    Der Ältere nickte abwesend und setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg zum Tor mußte er über Dutzende von Leichen hinwegsteigen, die sich, durch Schwerthiebe niedergestreckt oder von Pfeilen durchbohrt, an beiden Seiten der Gasse türmten. Der süßliche Geruch von Blut stieg ihm zu Kopf wie schwerer Wein. Im Nu färbte sich der Saum seines wallenden Kapuzenmantels rot. Der Herr im Himmel wird dieses Opfer annehmen, überlegte er. Er wird die Gottlosen mit Feuer und Schwert von der Erde fegen! Lange konnte es nicht mehr dauern. Zuerst würde der Verräter in Wittenberg fallen, danach die römische Hure. Die Zeichen standen günstig.
    In der Nähe des Fallgatters fiel der Blick des Mannes plötzlich auf den von Mauersteinen zerschmetterten Körper einer Frau, zwischen deren Fingern ein Dolch hervorlugte. Er nahm das Messer an sich und steckte es in eine Schlaufe seines Wamses. Es war eine bescheidene Waffe, die Klinge maß kaum mehr als acht Zentimeter, und doch fühlte er sich plötzlich nicht mehr ganz so wehrlos.
    Vorsichtig schlugen sich die beiden Männer durch einen verwilderten Garten, der zum Besitz eines verlassenen Klosters gehörte. Vor ihnen tat sich ein unübersichtlicher schwarzer Schlund auf. Ein ekelerregender Geruch nach Fäulnis und Tod wehte ihnen daraus entgegen.
    »Was zum Teufel …« Der junge Wachsoldat stieß einen Schrei aus. Grauen schüttelte ihn, als er über den Rand der Aushebung blickte.
    Die Grube war nicht weniger als fünf Meter tief und nur halb mit Erde bedeckt. Unter der vom Regen aufgeschwemmten Erdschicht lagen Hunderte von leblosen menschlichen Körpern, in schmutzige Stoffstreifen gewickelt und zu einem bizarren Turm aufgeschichtet. Jünglinge, die mit ihren grauen, spitzen Gesichtern wie Greise wirkten, Frauen und Kinder, verschlungen zu einem obszönen Totentanz. Zwischen den abgewinkelten Armen, Beinen und Schädeln der Toten stachen zudem Knochen und Schädel verendeter Pferde und Ziegen hervor. Wie in grauer, heidnischer Vorzeit hatten Mensch und Tier an diesem Ort eine gemeinsame letzte Ruhestätte gefunden.
    »Nimm dich zusammen, Junge!« Die Stimme des Älteren klang tonlos, bar jeden Gefühls. »Sie sind während der Belagerung gestorben und ruhen nun auf himmlischen Thronen. Hätten unsere Brüder sie nach heiligem Brauch bestatten sollen, während die verfluchten Bischöflichen mit ihren Sturmleitern unsere Mauern emporsteigen? Die Kirchhöfe sind seit Monaten überfüllt. Die Kadaver verpesten die Luft. Komm endlich weiter!«
    »Nein, Herr!«
    Der junge Stadtwächter biß sich trotzig auf die Unterlippe. Offensichtlich hatte er einen Entschluß gefaßt. »Weiter gehe ich nicht mit Euch. Ich verstecke mich hier im Klostergarten bis der Tag anbricht und der Blutrausch der Landsknechte abgeklungen ist. Einer meiner Vettern kämpft im Lager des Fürstbischofs. Wenn ich ihn finde, wird er mir beistehen. Wir alle haben gesündigt, als wir den Schoß der Kirche verließen, aber ohne Euch habe ich wenigstens eine Chance zu überleben.« Er deutete auf den schattenhaften Umriß der alten Abtei. Das Gebäude lag in völliger Finsternis vor ihnen. »Seht Ihr die Seitenpforte zum Klosterhof? Im Gebäude zur rechten Hand findet Ihr eine Falltür, die Euch durch einen Tunnel zu den Schanzgräben führt. Wenn Ihr wirklich im Auftrag des Herrn unterwegs seid, sind sie vielleicht unbewacht. Dann könnt Ihr durch den Wassergraben schwimmen und jenseits der Mauer über die Dornenhecken verschwinden!«
    »Zweifelst du nur an mir oder auch an der Macht unseres Herrn?« Der Mann nahm seinen
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