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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra
Autoren: Guido Dieckmann
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schnürte mit geschickten Bewegungen das Band unter ihrem Doppelkinn straffer. Ihrer Stimme war indessen anzumerken, daß die Ermahnung ihr nur halbherzig über die Lippen gekommen war. Die Verlobung des jungen Sebastian von Bora mit der Medewitzerin war nicht nur Philippa, sondern halb Lippendorf empfindlich auf den Magen geschlagen.
    Die Fehde zwischen Lippendorf und seinem westlichen Nachbarn war bereits so alt, daß nicht einmal Roswitha sich erinnern konnte, wann genau sie ihren unheilvollen Anfang genommen hatte. War der Streit zu Beginn der Auseinandersetzungen nur um einige verschobene Grenzsteine ausgetragen worden, so hatte der Leichtsinn von Philippas Großvater letzten Endes zu einer Schuldverschreibung geführt. Die Familie von Bora hatte das Fron- und Mühlenrecht über Lippendorf an das Erbgut von Medewitz verloren. Seitdem pflegten die Medewitzer Ritter und deren Landsknechte unbekümmert über Nikolaus von Boras Felder zu galoppieren. Sie zerstörten den Weizen, beleidigten die Bauern, die sich selbstverständlich nicht zur Wehr setzen durften, und schreckten nicht einmal davor zurück, Schmähungen gegen das nachbarliche Gut auszustoßen. Einige der Dienstmannen trieben es besonders schlimm, indem sie sowohl Feldarbeiter als auch reisende Händler mit ihrem Mutwillen schikanierten. Sie trieben Vieh auseinander und stellten jungen Mägden nach. Im Herbst hatte die Weidmüllerin ein Kind zur Welt gebracht, das sie nun allein, auf Almosen angewiesen, durchbringen mußte. Beschwerden verhallten ungehört.
    Philippa nahm ein Buch mit einem kostbaren dunkelbraunen Ledereinband von ihrem Tisch. Zärtlich strich sie über den sorgfältig eingestanzten und mit Gold aufgefüllten Schriftzug. Auf diese Ausgabe der De Coniuratione Catilinae war sie besonders stolz. Erst vor kurzem hatte sie damit begonnen, das bekannte Werk des römischen Schriftstellers Sallust in die deutsche Sprache der höfischen Kanzlei zu übertragen.
    Die junge Adelige liebte das Studium der alten Sprachen, seit sie als kleines Mädchen den Unterricht ihres älteren Bruders belauscht und dessen Magister, einen armen wandernden Studenten, so lange geplagt hatte, bis er es nicht mehr ablehnen konnte, sie mit der wunderlichen Welt des klassischen Altertums bekannt zu machen. Mit leuchtenden Augen hatte sie aufgenommen, was der Magister sie lehrte, und nach einer Weile hatte sie sogar begonnen, von Göttern und Tempeln unter blauem Himmel und heißer Sonne zu träumen. Gemeinsam mit Julius Cäsar stand sie vor dem Senat oder begleitete ihn hoch zu Roß auf seinen Kriegszügen gegen die Gallier und Briten. Fühlte sie sich krank oder einsam, so diskutierte sie im Geiste mit Cicero, und längst hatte sie sich angewöhnt, seine berühmten sechs Fragen auch auf ihre kleinen, alltäglichen Probleme anzuwenden.
    Quis? Quid? Quomodo? Ubi? Quando? Cur?
    Eines Tages merkte ihr Vater jedoch, daß nicht nur Sebastian über mathematischen Formeln und griechischen Vokabeln brütete, und entließ den wandernden Magister aus seinen Diensten. Als der Unglückliche es wagte, dem Hausherrn von Philippas Begabung und Sebastians nur mäßigem Fortschritt zu berichten, ließ Nikolaus von Bora ihn von einem seiner Knechte mit den Hunden bis hinter die Mühlen von Kaunitz jagen. Der flüchtende Vagant hatte nicht einmal Zeit gehabt, seine Bücher und Kleider zu packen, ein Umstand, der zumindest Philippa zum Nutzen gereichte, denn sie nahm alles, was der Magister hinterlassen hatte, an sich und verbarg es heimlich im Heuschober.
    Nikolaus von Bora war mit seiner Tochter hart ins Gericht gegangen und hatte sie wochenlang in ihrer Kammer eingesperrt, um ihren unheilvollen Stolz zu brechen. Was sollte man auch mit einem Mädchen aus adeligem Haus anfangen, das kaum sticken und nähen konnte, sich dafür aber den Kopf mit unnützem Firlefanz vollstopfte, der es von ihren eigentlichen Aufgaben ablenkte? Genügte es nicht, wenn Sebastian als zukünftiger Herr über Lippendorf das Lesen und Rechnen erlernte, um sein Rittergut zu verwalten? Von dem endlosen Geschwätz der Humanisten über die Früchte des klassischen Altertums oder den Fabeln über die Neue Welt, die ein paar Spanier entdeckt haben wollten, wuchs der Weizen auf den Lippendorfer Feldern schließlich auch nicht schneller. Und in Zeiten drohender Hungersnöte war Weizen nichts weniger als das wahre Gold des Landes.
    »Roswitha, hör endlich auf, in meinen Kleidern zu wühlen«, rief Philippa, die fand, daß
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