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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese
Autoren: Martin Krist
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Schicht im Callcenter etwas früher beginnen zu können, um anschließend rechtzeitig im Gymnasium in Königs Wusterhausen zu sein. Sie stellte sich auf einen Tag ein, der noch stressiger werden würde, als er ohnehin schon gewesen wäre.
    Laura wählte die Handynummer ihrer Tochter, wurde jedoch zur Mailbox durchgestellt. Es erklang laute Techno-Musik, bei der Lisas Ansage kaum zu verstehen war. Nur mit Mühe bändigte Laura ihren Zorn. »Fräulein, kannst du mir bitte erklären, warum du – schon wieder – nicht in der Schule bist? Und wo steckst du überhaupt? Ruf mich an! Nein, du kommst heim. Sofort!« Sie legte auf. »Sam!«
    Sam zuckte zusammen, als hätte sie ihn aus dem Schlaf gerissen. Er senkte den Kopf, so dass seine struppigen Haare sein Gesicht verdeckten, und knetete seine Finger.
    Nicht zum ersten Mal fragte Laura sich, was in ihm vorging. Dabei kannte sie die Antwort und auch die Gründe, warum er sich trotz seiner acht Jahre immerzu wie ein kleines Kind benahm.
    Sie kämpfte gegen die Verbitterung an, die ihr mittlerweile vertrauter war als das Lachen ihrer Kinder. Beklommen sah sie auf die digitale Uhr ihres Handys. »Sam, der nächste Bus kommt gleich.«
    Er ließ nicht erkennen, ob er sie verstanden hatte.
    »Den verpasst du aber nicht, ja?«
    Endlich hob er den Blick.
    »Willst du solange an der Haltestelle warten oder daheim?«
    Er zog die Riemen seines Rucksacks straffer und humpelte ihr hinterher. Sie glaubte nicht, dass sein Zeh ihm nach wie vor Schmerzen bereitete. Aber darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Ihr blieb nur wenig Zeit, bis ihr eigener Bus kam. Nur ein paar Minuten, in denen sie sich vergewissern konnte, dass Lisa tatsächlich erkrankt und deshalb wieder heimgekehrt war. In den Blumenbeeten im Vorgarten ihres Hauses wuchs das Unkraut so hoch, dass sogar der Rosenstrauch vor dem Küchenfenster nur noch einem wilden Gestrüpp glich. Früher hatte Laura die Gartenarbeit geliebt, stundenlang in der Sonne und an der frischen Luft verbracht. Früher war vieles anders gewesen. Sie schob ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht und entriegelte die Haustür.
    Jetzt klärt sich alles auf , flüsterte sie vor sich hin, ganz sicher. Bestimmt war ihre Tochter zu Hause, weil sie einen Schnupfen hatte, Migräne, Unterleibsschmerzen oder ihre Tage.
    Laura trat in die Diele. »Lisa?«
    Kapitel 3
    Habe ich schon erwähnt, dass die Zeit, die ich als Kind mit meinen Eltern verbrachte, nur knapp bemessen war?
    Meine Eltern besaßen ein großes Grundstück und hielten sich aus Nostalgie – die Bodenreform lag ein halbes Jahr zurück – noch ein paar Katzen, Kühe, Schweine, Hühner und Gänse. Die Tiere sorgten zwar nicht für unser Einkommen, aber natürlich bereiteten sie viel Arbeit.
    Ich war frischgebackene Pionierin, und mein Vater trug mir auf, mich um die Tiere zu kümmern. Fortan fütterte ich mittags nach der Schule die Schweine, melkte die Kühe und trieb abends die Hühner zusammen. Wenn im Herbst die Zeit dafür gekommen war, half ich meiner Mutter, eine Gans zu schlachten. Dass meine Eltern mich mit diesen Aufgaben betrauten, erfüllte mich mit Stolz, fast noch mehr als die weiße Bluse und das blaue Halstuch, die ich seit kurzem trug.
    Natürlich unterliefen mir anfangs Fehler, aber meine Eltern waren mir niemals böse. Als eines Abends eine wildgewordene Kuh auf mich losging, war es mein Vater, der sich ihr in den Weg stellte und mich vor den stampfenden Hufen rettete. Er kam mit einem blauen Auge, einigen geprellten Rippen und einem gebrochenen Arm davon. Seitdem war er mein Held.
    Für den täglichen Unterhalt betrieben meine Eltern in Finkenwerda die Bäckerei, die früher meinem Urgroßvater gehört hatte. Er hatte sie seinem Sohn vererbt, die dieser kurz vor seinem Tod an meinen Vater weiterreichte. Bäckereien waren in der DDR einer der wenigen privaten Handwerksbetriebe. Das machte unseren Laden zu etwas Besonderem, und nicht zuletzt deshalb war er der ganze Stolz meines Vaters.
    Die Kunden merkten das vor allem daran, wie mein Vater sich täglich um ihr Wohlergehen sorgte. Weil schon morgens um fünf die ersten Leute im Dorf auf den Beinen waren, schleppte sich mein Vater bereits um vier Uhr in die Backstube. Davon hielten ihn nicht einmal die dicken Verbände und der Gipsarm ab, die er der Kuh zu verdanken hatte. Auch Mutter ließ sich von seiner Begeisterung anstecken. Eimerweise pflückten wir Beeren im Wald, die sie anschließend einmachte und als Marmelade
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